"Es gab keine Hilfe" - Die Geschichte einer Flucht

"Es gab keine Hilfe" - Die Geschichte einer Flucht
1945 flüchten Manschen aus Ostpreußen und anderen Gebieten vor der "Roten Armee". Menschen, wie Ruth Busch. Neun Jahre ist sie alt, als sie 1944 aus Schlesien flüchten muss. In Hessen hat sie Heimat gefunden. Die Erlebnisse der Flucht lasten dennoch schwer.
11.02.2010
Von Henrik Schmitz

Eine Frau sitzt in ihrer Küche und denkt sich in ihre Kindheit hinein. In eine Zeit, in der sie so jung war wie ihre blonden Enkelkinder, die auf den Bildern zu sehen sind, die hinter ihr an der Wand hängen. Eine Zeit, als der Zweite Weltkrieg tobte, aber so weit entfernt schien von ihrem eigenen Leben. Eine Zeit, in der sie mit fünf Geschwistern und ihren Eltern in Auras bei Breslau lebte, in einem großen Haus mit einem großen Garten, durch den ein Bach floss. "Es war richtig idyllisch", sagt Ruth Busch geborene Dollinger und lächelt mild. Dann gefriert das Lächeln und sie beginnt eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines kleinen Mädchens aus Schlesien, dessen Kindheit viel zu früh zu Ende war. Ihre Geschichte.

Im September 1944 ist Ruth neun Jahre alt. Fliegeralarm. Sirenen heulen, Familie Dollinger eilt in den Luftschutzkeller. Bereits seit Wochen fliegen die Alliierten Angriffe auf Breslau, verbringen die sechs Kinder und die Eltern Nacht um Nacht im Bunker. Doch dieses Mal passiert das Unglück: Die Mutter stürzt am Kopf der Treppe zum Keller, fällt die Stufen herab und bleibt unten liegen. Sie stirbt an inneren Blutungen.

Von nun an sind die sechs Kinder oft allein, der Vater muss helfen, Schützengräben auszuheben. Die 17-jährige Gerda und die 15-jährige Waltraud übernehmen die Rolle der Mutter. Während die Kinder die Zeit im Elternhaus verbringen, den Garten pflegen, das Schwein und die Karnickel füttern, rückt die Rote Armee immer näher. So nah, dass Ruth das Donnern der Kanonen und das Rattern der Panzer hören kann. Der Vater wird zum Volkssturm eingezogen. Die Russen kommen. Die Flucht beginnt.

"Jeder war irgendwie mit sich selbst beschäftigt"

Der Winter 1944 ist eisig. Es herrschen minus zwanzig Grad. Die Straßen sind verstopft vom Schnee, der meterhoch liegt, und von Menschen, die in großen Trecks nach Westen ziehen. "Bloß nicht dem Russen in die Hände fallen", denken die Menschen. Ruth und ihre fünf Geschwister kommen in ein paar Decken gehüllt auf dem Holzwagen eines Bauern unter. Dort sitzt Ruth mit ihren blonden Haaren und dem Pagenschnitt, friert und starrt nur auf die weißen Wölkchen, die entstehen, wenn sie ausatmet. Geredet wird nicht. "Jeder war irgendwie mit sich selbst beschäftigt."

Immer wieder bleibt der Wagen in Schnee und Matsch stecken, die Kinder müssen herunter und schieben. Tage vergehen, der Proviant geht aus, das große Sterben beginnt. "Verrecken", sagt Ruth Busch. Als Erstes die Babys. Sie liegen in Reihen am Straßenrand, die Gesichter fahl, mit schwarzen Flecken von den Erfrierungen. 14 Tage vergehen, bis die Flüchtlinge zum ersten Mal Hilfe bekommen. Das Deutsche Rote Kreuz verteilt heiße Milch. "Es war, als tue sich der Himmel auf." Und der Himmel tut sich noch einmal auf für die Geschwister. Der Vater erreicht den Treck und findet die Kinder. Mit dem Fahrrad hat er sich aus Breslau durchgeschlagen. Er ist halb verhungert und verlaust. Die Familie ist nicht mehr komplett, aber zusammen. Das zählt.

"Jeder hatte nur mit sich zu kämpfen"

Der Treck geht weiter, Essen gibt es nicht. Ruths Geschwister Waltraud und Hermann sind 15 und 13 Jahre alt. Auch sie schaffen es nicht und erfrieren nach vier Wochen auf der Flucht. "Ich habe nur das Gefühl gehabt, dass jeder, auch meine Geschwister, nicht mehr auf den anderen aufpasste. Jeder hatte nur mit sich zu kämpfen. Es war jeder für sich selber. Es gab gar nichts. Keine Hilfe, keine warme Hand. Gar nichts." Die Familie legt Waltraud und Hermann an den Straßenrand. Kein Sarg. Kein Grab. Kein Kreuz. "Decke drüber und weiter."

Monate vergehen, in denen die Familie in abgebrannten Häusern und Scheunen schläft. Die Kinder sind voller Läuse, medizinische Hilfe gibt es nicht. In Regensburg wird die Familie in der Psy chiatrie untergebracht, woanders ist kein Platz. Sie dürfen nicht raus. Einmal am Tag drehen die Flüchtlinge im Hof eine Runde mit den Patienten, die schreien, wirre Dinge sagen und so der neunjährigen Ruth Angst einjagen. Aber es kümmert sich niemand um diese Angst. Keiner redet mit Ruth über die Erlebnisse, auch Jahre später nicht.

Schwerer Unfall

Ruth Buschs Gedanken kehren zurück ins Heute, nach Solms-Oberndorf (Hessen), wo sie lebt. "Ich träume viel", sagt sie. "Es sind wirre Träume. Vieles geht durcheinander. Die Flucht. Meine tote Tochter", sagt Ruth Busch und deutet auf ein Foto, das über dem Küchentisch hängt und auf dem eine Frau mit einem Mona-Lisa-Lächeln zu sehen ist. Sie starb vor einem Jahr. Ruth Busch schnäuzt sich die Nase und seufzt. "Ich selbst bin dem Tod ja oft von der Schippe gesprungen. Einmal bin ich beim Skifahren in eine Gletscherspalte gefallen, einmal bin ich vom Blitz getroffen worden. Und damals der Unfall bei Regensburg."

Das war 1946. Familie Dollinger verlässt die Psychiatrie und tut sich mit zwei anderen Familien zusammen. Mit einem Handwagen ziehen sie umher. Heimatlos, ziellos. "Mal hieß es, wir können wieder nach Hause, dann wieder nicht. Mal waren wir halb in Schlesien, dann wieder in Bayern." Es ist ein warmer Tag, an dem die drei Familien ihren Handwagen über eine kleine Straße ziehen, die Kinder sind barfuß. Hans, das Jüngste der Geschwister Dollinger, liegt oben auf dem Wagen. Von hinten kommen Lkw, es sind Amerikaner. Betrunken, wie sich später herausstellt. Sie wollen sich einen Spaß machen und sehen, wie die Flüchtlinge vor ihrem Lkw in den Straßengraben springen. Aber die springen nicht; der Lkw überrollt sie. Ruth findet sich im Straßengraben wieder, leicht verletzt wie ihre Geschwister und der Vater. Die anderen beiden Familien liegen auch im Graben - blutüberströmt. Sie sterben.

Die Geschwister werden auf verschiedene ' Krankenhäuser verteilt, wochenlang braucht der Vater, um alle abzuklappern und seine Kinder wiederzufinden. Erst 1947 findet die Odyssee durch Bayern ein Ende. Die Familie schließt sich einem Flüchtlingstransport an und kommt nach Aßlar-Altenstädten in ein Auffanglager. Der Traum, wieder inn die Heimat zu kommen, ist ausgeträumt. "Das Lager war ganz primitiv. Wir hatten nur Strohsäcke, auf denen wir liegen konnten", berichtet Ruth Busch. Essen gab es. Oft rohe Kartoffelschalen mit Öl. Beschäftigung gab es nicht. Ruth, inzwischen 11 Jahre alt, liegt auf ihrem Strohsack und denkt an ihre Mutter. Stundenlang.

Akkordarbeit in der Grube

Der Vater ist krank. Die Lunge ist schwach seit einem Durchschuss aus dem Ersten Weltkrieg. Als er das Angebot bekommt, auf der Grube in Werdorf zu arbeiten, sagt er dennoch zu. Für Ruth ist es keine schöne Aussicht. Sie muss dem Vater helfen. Er muss in Akkordarbeit Waggons mit Eisenerz füllen. Dafür gibt es ein paar Groschen. 

Die Unterkunft auf der Grube ist ein karger Raum. Es gibt kein fließendes Wasser und keine Toilette. Die Geschwister teilen sich ein Paar Schuhe, das sie vom Roten Kreuz geschenkt bekommen. Meistens läuft Ruth barfuß in die Schule, auch im Oktober, wenn der Boden bereits friert. Einmal tritt sie in einen rostigen Nagel und bekommt eine Blutvergiftung. Die Gemeindeschwester in Werdorf schneidet die Wunde auf und holt das Gift raus. Ruth beißt die Zähne zusammen. Noch am selben Tag arbeitet sie in der Grube.

"Ich habe mich halt als armes Mädchen gefühlt"

Freundinnen hat Ruth nicht. Sie ist zurückgezogen. "Die Mädchen in der Schule waren schon nett zu mir und haben gefragt, ob ich mit zum Schwimmen will, aber ich wollte nie. Ich habe mich halt als armes Mädchen gefühlt. Und vielleicht auch ein bisschen geschämt." Ruth ist mit ihrem Vater inzwischen allein, die Brüder sind ins Ruhrgebiet gegangen. Dort gibt es Arbeit. Das Jugendamt mischt sich ein. Taucht beim Vater auf, stöbert herum und prüft, ob er die Tochter auch gut versorgt. Der Vater fühlt sich provoziert. Er schmeißt die Fürsorgerin raus. Wegen der Konflikte wird ihm Geld gekürzt - nun bleibt noch weniger.

Als sie 14 ist, möchte sie einen Beruf lernen: Friseurin ist ihr Traum. Aber das Jugendamt verbietet es. Einen Ausbildungsplatz gibt es nur, wenn Ruth eine geeignete Unterkunft hat. Die kann der Vater nicht bezahlen.

Ausbildung zur Krankenschwester

Das Jugendamt vermittelt sie in das evangelische Vereinsheim nach Herborn. Dort arbeitet Ruth Busch als Hausmädchen. Sie bekommt Unterkunft und Verpflegung, die Bezahlung ist mit 20 Mark knapp. Manchmal schickt der Bruder aus dem Ruhrgebiet etwas Geld. 

Allein habe sie sich gefühlt, nur selten kam der Vater sie besuchen und 1955 stirbt er. 1954 beginnt Ruth Busch beim Deutschen Roten Kreuz in Braunfels eine Ausbildung. "Ich wollte mich finanziell verbessern und habe die Ausbildung gemacht und ein bisschen schön verdient. Das war mein Glück, meine schönste Zeit. Und dann ging es so langsam aufwärts, der Wille war da, ich habe alles durchgekämpft und ausprobiert. Ich weiß nicht, wo ich die Kraft her hatte", sagt sie und die Tränen stehen in ihren Augen.

Heimat, die keine zweite Heimat ist

Von ihrem ersten Geld kauft sie sich ein Fahrrad und erkundet die Gegend. Bis nach Rüsselsheim fährt sie, um dort den Mann zu besuchen, den sie 1957 heiratet, mit ihm später ein Haus in Oberndorf baut und zwei Töchter bekommt. Über die Vertreibung geredet hat sie mit ihren Kindern nicht. "Ich bin trotz allem immer wieder glücklich gewesen, weil ich es geschafft habe. Mit den Einheimischen habe ich nie Probleme gehabt, ich bin auch immer ein fröhlicher Mensch gewesen und bin hier in den Chor eingetreten. Für mich ist Oberndorf nicht die zweite Heimat, sondern für mich ist das die Heimat." Lange Zeit hat sie nicht an die Flucht gedacht, hat verdrängt, was sie erlebte, als sie noch ein Kind war. "Aber jetzt sind über 60 Jahre vergangen, und wenn man dann die Filme sieht, kommt die Erinnerung", sagt die 74-Jährige.

Sie weint und blickt auf den Küchenschrank. Aber ihr Blick geht weiter. In eine Zeit und an einen Ort, die weit entfernt sind. Ein Blick vorbei am Auffanglager in Aßlar, der Grube in Werdorf, der Psychiatrie in Regensburg und einer winterlichen Straße, an deren Rand zwei tote Kinder liegen. Ein Blick nach Osten, nach Schlesien. Hin zu weiten Feldern und duftenden Wiesen. Nach Auras. In einen großen Garten, durch den ein Bach fließt, auf dem in einer Zinkwanne ein neunjähriges Mädchen umherpaddelt.


Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.

Der Text über Ruth Busch ist ursprünglich in der "Wetzlarer Neuen Zeitung" (WNZ) erschienen.