Eines folgt seit jeher dem literarischen Erfolg zuverlässig auf dem Fuß: der Plagiatsvorwurf. Diesmal ging es besonders schnell. Ein Internet-Blog entlarvte mit einer Vielzahl von Belegen, dass "Axolotl Roadkill" der hochgelobten Nachwuchsautorin Helene Hegemann teils Szenen und Beschreibungen, teils direkt übernommene Formulierungen aus fremder Feder enthält.
Verlag und Autorin reagierten sofort. Ullstein kündigte "Gespräche" mit den Rechteinhabern an, Hegemann selbst gibt sich unbedarft: "Wie das juristisch ist, weiß ich leider nicht so genau", erklärte sie und räumte das Abschreiben ein. Heute bediene man sich aber nun einmal überall, wo man Inspiration finde: "Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit." Sie verteidige ihr Vorgehen "voll und ganz". Über den Stellenwert des Schöpferischen sprach evangelisch.de mit dem Musikjournalisten Klaus Walter.
evangelisch.de: Helene Hegemann reklamiert für sich „das Recht zum Kopieren und zur Transformation“ und reiht sich in eine „Remix-Kultur“ ein, die ja der Musik entspringt. Können Sie die Argumentation nachvollziehen?
Klaus Walter: Ja, das kann ich verstehen. Vom Material her finde ich den Vergleich aber etwas schwierig. Das Wort an sich lässt sich nicht mischen, es lässt sich im Mix nicht so unkenntlich machen wie es ein DJ tut, bei dem unter Umständen nicht mehr klar ist, ist es noch die erste oder schon die zweite Platte, die zu hören ist. Recht geben würde ich ihr bei ihrer Vorgehensweise. Dass sie nämlich als 16-, 17-Jährige das, was sie irgendwo aufschnappt oder im Netz liest, mit dem vermischt, was sie selbst erlebt. Jugendliche sind heute einer ganz anderen Flut von Eindrücken ausgesetzt als frühere Generationen. Insofern entspricht das der Existenzform heutiger Heranwachsender. Helene Hegemann drückt es mit dem schönen Satz aus: „Von mir selber ist überhaupt nichts, ich selbst bin schon nicht von mir.“ Was wiederum ein Zitat ist.
Wo beginnt das Plagiat?
evangelisch.de: Wirklichkeit ist längst zum großen Teil von Medien vermittelte Wirklichkeit. Das betrifft nicht nur Jugendliche.
Walter: Richtig. Von dem Berliner Szene-Club „Berghain“, der in Hegemanns Buch ja auch vorkommt, ist zum Beispiel schon so viel die Rede gewesen, dass ich selbst das Gefühl habe, ich kenne ihn, obwohl ich noch nie da war. Und das ist sozusagen der Materialkern ihres Buchs. Autoren wie Rainald Goetz und Thomas Pynchon arbeiten auch so, zitieren seitenweise und machen nicht immer ihre Quellen kenntlich. Im konkreten Fall liegt aber offensichtlich ein Plagiat vor.
evangelisch.de: Wo endet die eigene schöpferische Leistung aus dem Mix meiner Erfahrungen und Eindrücke, wo beginnt das Plagiat?
Walter: Das ist natürlich die Kernfrage. Ist das Sammeln und das Neusortieren nicht der schöpferische Akt? Ein guter Mixer ist manchmal besser als ein schlechter Erfinder. Hängen wir nicht noch immer dem Bild des 19. Jahrhunderts vom Genie in seiner Schreibstube nach? Im Fall von Helene Hegemann kriegt die Kritik schnell etwas Altherrenhaftes. Wenn es zum Beispiel heißt, sie könne wegen der strengen Einlasskontrollen als 16-Jährige gar nicht im „Berghain“ gewesen sein, finde ich das schon wieder problematisch. Ich muss nicht Aids haben, um über Aids zu schreiben.
evangelisch.de: Woher stammt der musikalische Mix als eigenständige Kunstform?
Walter: Aus Jamaika, wo der Selector, der DJ, in den 60er-, 70er-Jahren auf öffentlichen Plätzen Platten auflegte und zwischen den Songs irgendwelche Geschichten erzählte. Dann fand man es besser, zwei Plattenspieler zu haben und die Titel ineinander zu mischen. Daraus entstanden später die verlängerten Dance-Versionen und Remixe auf Maxi-Singles speziell für Tanzbedürfnisse.
Die Remix-Kultur
evangelisch.de: Ganze Alben mit- und ineinander zu mischen, ohne sich um die Urheberrechte zu kümmern, ist ein neueres Phänomen. Ist es aber nicht ein Unterschied, wenn Remixer erkennen lassen, dass sie mit bereits vorhandenem Material arbeiten?
Walter: Es ist auf jeden Fall ein Unterschied. Wobei Helene Hegemann ja offenbar nicht komplett geklaut hat.
evangelisch.de: Der emotionale Höhe- und Schlusspunkt ihres Romans, ein hasserfüllter Brief der Mutter an die Protagonistin, stellte sich nun als ein direkt ins Deutsche übertragener Songtext der Indie-Rockband Archive heraus. Was halten Sie davon?
Walter: Finde ich absolut verständlich. Die Popmusik leiht uns ihre Stimme. Wie oft reden wir, selbst meine Generation, in Songzeilen und Liedtexten? Als ich 16, 17 war, habe ich die Konflikte mit meinem Vater über Songtexte ausgetragen: „We gotta get out of this place“ und dergleichen. Das soll keine Entschuldigung sein, nur eine Erklärung. Aus ethischer Sicht würde ich immer fordern, dass man seine Quelle kenntlich macht. Ehre, wem Ehre gebührt.
Copyright greift nicht mehr
evangelisch.de: Haben wir es mit einer Generation zu tun, die das Copyright schlichtweg nicht mehr akzeptiert?
Walter: Klar. Weil sie in einer Welt lebt, in der das Copyright nicht mehr greift. Wenn ich einen Song gratis aus dem Netz lade, begreife ich ihn nicht mehr als Ware, die geschützt ist. Ähnlich ist es auch mit dem Wort. Die meisten Blogger schreiben unter Pseudonym und sind nicht mehr zu identifizieren. Wenn sie sich gegenseitig zitieren, sind sie quasi auch keine juristische Person mehr. Ich glaube, dass das in den nächsten Jahren total zunehmen wird. Das Gleiche erleben wir in der Musik: 80 Prozent der Produzenten benutzen eine Software namens Ableton. Da kann man jetzt die Frage stellen: Wer ist eigentlich der Schöpfer? Ist es die Software, ihr Entwickler oder der Nutzer, der sie sich zu Eigen macht und daraus etwas bastelt? Das wird noch weite Kreise ziehen.
Der Journalist Klaus Walter, Jahrgang 1955, gilt als einer der profiliertesten Musikautoren und Radio-DJs hierzulande (byte.fm). Von ihm erschien zuletzt gemeinsam mit Thomas Meinecke und Frank Witzel der kulturhistorische Band "Die Bundesrepublik Deutschland" (Edition Nautilus).
Thomas Östreicher ist freier Journalist und lebt in Hamburg.