evangelisch.de: Wie geht es Ihnen nach der Katastrophe? Wird Ihr Leben danach dasselbe sein können wie das davor?
Laennec Hurbon: Nein, mein Leben ist nicht mehr dasselbe. Das was ich seit den ersten Augenblicken des Bebens und während der folgenden Tage erlebt habe, ist ein fürchterlicher Schock. Niemanden lässt solch eine Apokalypse unverändert. Öffentliche Gebäude, Universitäten, Kathedrale und Kirchen, Schulen, große und kleine Wohnhäuser - alles mit einem Schlag zerstört, und unter dem Trümmern viele Tote und Krüppel. Mir war klar, dass es früher oder später ein Erdbeben in Haiti geben würde, aber eine solche Wucht hätte ich mir nie vorstellen können: 2,5 Millionen Obdachlose in der Hauptstadt. Reich und Arm schlafen nebeneinander auf dem Bürgersteig, unter freiem Himmel, aus Sorge vor den immer wieder auftretenden Nachbeben.
In den ersten Stunden nach dem Beben herrschte um mich herum ein einziges Schreien und Heulen. Der totale Ausfall der Kommunikation machte die Not noch größer: Die Telefone waren tot, stunden- und sogar tagelang wusste niemand, welche seiner Angehörigen tot waren und wer noch lebt. Aktuell liegt die Totenzahl bei 170.000, meines Erachtens wird sie noch auf mindestens 200.000 steigen, denn auch die Städte im Süden und Süd-Osten des Landes sind getroffen, manche sind zu 70 Prozent zerstört, andere zu 90 Prozent. Das Schlimmste war, nicht in der Lage zu sein, all die Toten ordentlich zu bestatten, mit denen die Straßen übersät waren.
Meine Aufgabe ist nun, als Universitätsprofessor und Forscher, aktiv daran mitzuarbeiten, das Leid der Bevölkerung zu lindern und den Wiederaufbau voranzubringen.
"Alle lebendigen Kräfte sollten eine Kampagne starten"
evangelisch.de: Was ist in der aktuellen Situation am dringlichsten?
Hurbon: Immer noch sind in den noch intakten Krankenhäuern Ärzte, Traumatologen, Medikamente vonnöten. Zudem Psychologen, denn die Menschen sind zutiefst traumatisiert. Außerdem kann man die Wohnhäuser nicht kurzfristig alle wieder aufbauen, weshalb riesige Mengen an Zelten und vorgefertigten Notunterkünften erforderlich sind. Gleichzeitig schießen die Preise für Grundnahrungsmittel gerade in spektakuläre Höhen.
evangelisch.de: Kann man sich vorstellen, dass Haiti irgendwann zur Normalität zurückfindet?
Hurbon: Sicher nicht von heute auf morgen. Momentan schlafen die Hauptstädter weiter unter freiem Himmel, aus Angst vor Nachbeben. Gut, der Autoverkehr scheint sich schon zu normalisieren, aber Schulen und Universitäten, ein Lebensnerv des Alltags, sind noch lange nicht zum normalen Betrieb zurückgekehrt. Mehr als 300.000 Menschen sind aus der Hauptstadt in die Provinz geflohen, die dortigen Schulen sind nicht ausgestattet für so viele Schüler. Das heißt, die außerordentliche Lage übersteigt die Möglichkeiten des schon vorher schwachen Systems bei weitem. Nötig wäre, dass alle lebendigen Kräfte des Landes, Führungskräfte, Bewegungen und politischen Organisationen beziehungsweise deren Vertreter, auf nationaler Ebene zusammenkommen und gemeinsam eine Kampagne starten, die dauerhafte Lösungen auf den Weg bringt - sonst wird die internationale Hilfe nur eine Ansammlung karitativer Maßnahmen bleiben, die aber keine Zukunft ermöglichen.
"Zum Wiederaufbau gehört eine Neugründung des Staates"
evangelisch.de: Im Moment kommt viel internationale Hilfe nach Haiti. Worauf ist dabei zu achten? Haben Sie Forderungen oder Empfehlungen an die Adresse derer, von denen die Hilfe kommt?
Hurbon: Vor allem denke ich, dass die Geberländer nicht die Zerbrechlichkeit Haitis ausnutzen dürfen, um das Land unter ihren Einfluss zu zwingen. In der Geschichte der Freiheit und des Rechts ist Haiti Vorreiter, es hat sich bereits zwischen 1791 und 1804 die Freiheit von Sklaverei und Kolonialherren erkämpft. Nun sind die Symbole des Staats zerstört - somit gehört zum Wiederaufbau des Landes auch eine Neugründung des haitianischen Staats. Das ist nur recht so: Früher wurde dieser Staat von politischen Eliten gesteuert, denen das Gemeinwohl gleichgültig war, und die jetzige Führung steht für einen politischen Kurs ohne Plan und Richtung - und für die Unfähigkeit, das Land auf die von Experten längst angekündigte Katastrophe vorzubereiten.
In zweiter Linie scheint mir wichtig, dass die Hilfe akute und mittel- bis langfristige Maßnahmen verbinden muss. Bisher sticht Haiti durch ein Schulsystem hervor, das zu 85 Prozent privat kontrolliert wird; durch eine Analphabetenquote von 50 Prozent - trotz großer Bemühungen, das zu ändern -; durch eine Wasser- und Stromversorgung, von der kaum 30 Prozent der Menschen profitieren. Das heißt, die Rolle des Staats in Haiti muss neu gedacht werden. Die Hilfe kann weder allein von internationalen Stellen kontrolliert werden noch allein von der Regierung, angesichts der großen Korruption. Zivilgesellschaftliche Institutionen in Haiti müssen den Staat dabei unterstützen, die Hilfen in Empfang zu nehmen und an die wirklich Hilfsbedürftigen zu verteilen. Es gibt eine populistische Tendenz, derzufolge die armen Slumbewohner die einzigen sind, die bei der Hilfsgüterverteilung berücksichtigt werden sollten. Aber das Erdbeben hat Menschen aus allen sozialen Schichten getroffen. Auf der anderen Seite muss auch verhindert werden, dass Unterstützer, Familien und Freunde von Regierungsangehörigen und anderen Einflussreichen bevorzugt werden.
Die weltweite Solidarität - eine neue Form von Globalisierung
evangelisch.de: Zumindest hier in Deutschland wurden viele erst durch das Erdbeben auf die enormen Probleme aufmerksam, die Haiti schon vorher hatte. Gibt es nun, nach der schrecklichen Zerstörung, langfristig vielleicht sogar eine neue Hoffnung für die Zukunft des Landes und der Menschen?
Hurbon: Ja, ich glaube es eröffnet sich eine neue Hoffnungsperspektive. Aus zwei Gründen. Erstens: Selbst auf dem Höhepunkt des Leids haben sich die Leute gegenseitig nach Kräften geholfen, ohne erst auf Hilfe von außen zu warten. Und man weiß, dass die gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen Haitis im Vergleich zu anderen Ländern der Karibik besonders ausgeprägt sind. Zweitens: Die weltweite Solidarität ist aufrichtig und bemerkenswert. Sie deutet an, wie Globalisierung auf eine neue Weise mit Leben erfüllt werden könnte. Aber alles muss getan werden, damit diese Solidarität zu dauerhaften Lösungen führt und das Ganze kein Strohfeuer bleibt.
evangelisch.de: Kurz nach dem Erdbeben hat man oft gehört, dass die Menschen auf der Straße sangen und beteten. Welche Rolle spielt die Religion, um die Folgen der Katastrophe zu überwinden?
Hurbon: In der absoluten Not nach dem Beben gehört die Religion zu den zentralsten Ressourcen der Haitianer. Die katholischen Kirchen und zahlreiche Pfarrer sind besonders getroffen worden. Aber die große Mehrheit der Menschen greift auf ihr gewohntes Glaubenssystem zurück, um sich den unermesslich harten Schicksalsschlag zu erklären. Pfingstler und Charismatiker ebenso wie Zeugen Jehovas haben angesichts des Ausmaßes der Katastrophe vom Ende der Welt geredet. Gewiss, manche aus den USA kommenden religiösen Bewegungen wie etwa Scientology zögern nicht, die psychologische Zerbrechlichkeit der Erdbebengeschädigten auszunutzen, um Anhänger zu rekrutieren. Das muss angeprangert werden.
Andererseits ist gewiss: Die blinde Gewalt dieses Erdbebens, die so gleichgültig gegenüber menschlichem Leben ist, hat - entgegen jeder Erwartung - eine Sinnsuche ausgelöst, die einhergeht mit der geschwisterliche Hilfsbereitschaft, die vielerorts auf der Welt zu beobachten ist.
Prof. Laennec Hurbon ist Forschungsdirektor am staatlichen Forschungszentrum CNRS in Frankreich und lehrt an der Universität Quisqueya in Haiti. Sein besonderes Interessengebiet ist die haitianische Volksreligion Voodoo. Dazu hat er vor einiger Zeit im ökumenischen Magazin "Welt-Sichten" den Artikel "Sklaven, Geister, Heilige - Nach langem Kampf ist der Voodoo in Haiti als Religion anerkannt" veröffentlicht.
Ulrich Pontes ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut das Ressort Politik.