Die "Grande Nation" diskutiert wieder einmal über ihr Selbstverständnis. Seitdem Frankreichs umtriebiger, um keinen Populismus verlegener Präsident Nicolas Sarkozy im Juni vergangenen Jahres erklärte, Burka-Trägerinnen seien im Land nicht willkommen, ist aus dem Streit um den Islam eine grundsätzliche Auseinandersetzung geworden. Wie viel Freiheiten kann ein streng säkularer Staat den Religionen – auch dem Christentum – zugestehen?
Rund fünf Millionen Muslime leben in Frankreich, mehr als in jedem anderen europäischen Land. Viele von ihnen sind aus den früheren französischen Kolonien in Nordafrika zugewandert, stehen ihrer neuen Heimat näher als etwa die Türken in Deutschland. In Marseille, wo jeder vierte Einwohner muslimisch ist, entsteht gerade eine neue monumentale Moschee, eine der größten in Europa. Das schürt Ängste und Vorbehalte.
"Gefangene hinter Gittern"
Dass auch die Burka an die nationale Identität in Frankreich rührt, zeigt ein Fall vom Juni 2008. Damals war einer Marokkanerin wegen des Ganzkörperschleiers die Einbürgerung verweigert worden. Sein Land, so Sarkozy ein Jahr später, könne es nicht hinnehmen, dass Frauen als "Gefangene hinter Gittern" lebten und vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten seien. Die folgende Verbotsdiskussion verlief unübersichtlich – selbst in der konservativen Regierung gibt es verschiedene Meinungen.
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der ausgerechnet auf Betreiben des kommunistische Abgeordnete André Gerin eingesetzt wurde, legt am Dienstag (26. Januar) seinen Bericht vor – danach entscheidet sich, ob es zu einer Volksabstimmung über die "Loi Burqa" kommt. Die Befürworter haben jüngst Aufwind bekommen: Nach einer Umfrage sind 57 Prozent der Franzosen für ein Verbot. Ein solches gibt es in Europa bisher nur in einzelnen Städten, etwa im belgischen Antwerpen.
Aufwind für Rechtsradikale
Wie in der Schweiz hat die Islamdebatte auch in Frankreich den Rechtsradikalen Aufwind beschert: Der berüchtigte Front National um den Altfaschisten Jean Marie Le Pen punktete etwa im Streit um die Moschee in Marseille, indem sie den Sozialisten vorwarfen, diese würden das Gotteshaus durch niedrige Mietzahlungen unzulässig subventionieren. Religiöse Gebäude dürfen in Frankreich nicht vom Staat unterstützt werden.
Rechtsradikale wie Konservative haben ein Interesse daran, den Disput über Kopftuch, Burka und Moscheen noch bis zu den im März anstehenden Regionalwahlen und darüber hinaus am Kochen zu halten. Die Sozialisten plädieren hingegen klar für Toleranz: Sie fordern Staatshilfen für islamische Gotteshäuser. Die Präsenz von Muslimen sei Teil der Geschichte Europas, sagte der führende Parteivertreter Manuel Valls. "Wir brauchen einen französischen Islam."
Mordanschlag auf Theaterregisseurin
Wasser auf den Mühlen der Islamkritiker war hingegen der Mordanschlag auf eine muslimische Theaterkritikerin in Paris. Die aus Algerien stammende Rayhana, so ihr Künstlername, war in der zweiten Januarwoche von zwei Männern auf Arabisch beschimpft und mit Benzin übergossen worden. Glücklicherweise gelang es den Angreifern nicht, die 45-Jährige anzuzünden. Rayhana hatte in Theaterstücken wiederholt die Unterdrückung der Frau im Islam angeprangert.
In den französischen Medien wird die Islamdebatte allerdings, anders als in der Schweiz, Holland oder Deutschland, überwiegend sachlich geführt. Die Zeitung "Le Monde" etwa räumt ein, dass der Islam in Frankreich allzu häufig ausgegrenzt werde. "Die Ablehnung der Symbole dieser Religion könnte extremistische Tendenzen verstärken, was gefährliche Auswüchse nach sich ziehen könnte", schrieb das Blatt im Zusammenhang mit dem eidgenössischen Minarettverbot im Herbst.
Auch "Libération" rät in der Burka-Debatte zur Mäßigung. Ein absolutes Verbot des Ganzkörperschleiers, so das linksliberale Blatt, wäre unverhältnismäßig. "Frankreich wäre das einzige Land auf der Welt, in dem die Polizei, die gewiss anderes zu tun hat, auf der Straße junge Frauen anhalten würde, die mehr Opfer als Täterinnen sind." In einem solchen Eifer könne man kaum mehr als eine diffuse Furcht vor dem Islam oder eine schleichende Feindseligkeit gegenüber den Muslimen erkennen.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Religion und Umwelt.