Uta Meier-Gräwe, 57, ist Professorin am Institut für Wirtschaftslehre des Haushalts an der Universität Gießen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Familiensoziologie und Haushaltswissenschaften. Sie ist Mitglied im Kompetenzteam "Familienbezogene Leistungen" im Bundesfamilienministerium, und sie hat gerade den "Essalltag in Familien" mit berufstätigen Müttern untersucht.
Mirko Reeh, 33, kocht im "Pearl - Reehstaurant" in Frankfurt am Main und im Fernsehen ("Kocharena" und "Unter Volldampf" bei Vox, "Die Kochprofis" auf RTL 2). Außerdem hat er mehrere Kochbücher veröffentlicht, er betreibt eine Kochschule und engagiert sich für die gesunde Ernährung von Kindern und Jugendlichen - unter anderem als Schirmherr des Vereins Powerbreak.
Das Gespräch zwischen Meier-Gräwe und Reeh erschien unter der Rubrik "begegnung" in der Ausgabe 01/10 des Magazins "chrismon".
chrismon: Frau Meier-Gräwe, Herr Reeh, was haben Sie heute Morgen gefrühstückt?
Mirko Reeh: Zwei Scheiben Knäckebrot mit einem selbst angemachten Frischkäse, darin Pflaume, Chili und Koriander. Dazu einen schönen Kaffee.
Uta Meier-Gräwe: Ich hatte eine Orange, schwarzen Kaffee und einen Joghurt.
chrismon: Das ist beides o.k. Gehören Sie zu den Menschen, die regelmäßig frühstücken?
Meier-Gräwe: Ich muss morgens immer was essen, weil ich sonst nicht auf Umdrehung komme.
Reeh: Ich nicht. Manchmal brauche ich erst mittags was, weil ich noch satt vom Vorabend bin.
chrismon: Lassen Sie das nicht Kinder und Jugendliche hören! Manche gehen morgens hungrig los. Und dann gibt es in manchen Schulen auch nichts Richtiges zu essen.
Süßkram in Schulkiosken
Reeh: Stimmt! Ich besuche ziemlich viele Schulen. Bevor wir kochen, schaue ich mir erst die Kioske an. Dieser ganze Süßkram! Ich sehe da Vollkornbrötchen, die gar nicht aus Vollkorn sind, sondern mit Malz gefärbt und mit drei Körnern drauf. Und den Mohrenkopf zwischen zwei Brötchenhälften, ein Klassiker aus meiner Kindheit, gibt es auch immer noch.
chrismon: Zwar lernen die Schüler in den Schulen alles über Proteine und ungesättigte Fettsäuren, aber praktisch kriegen sie den letzten Fraß. Stimmt das?
Reeh: Zwei Euro geben viele Eltern ihren Kindern morgens in die Hand - damit könnte ich ein tolles, gesundes Frühstück machen. Ich hätte da fast die Angst, dass ich das Kind überernähre. Eins hab ich immer noch nicht verstanden: Wenn ich als Familie von Hartz IV abhänge, hab ich doch eigentlich Zeit. Ich könnte mich eigentlich besser um meine Kinder kümmern.
Meier-Gräwe: Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand der Eltern und der Ernährungsweise. In Haushalten mit prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Hartz IV läuft oft überhaupt nichts mehr. In diesen Familien sind die Einzigen, die gefordert sind, die Kinder. Sie müssen früh aufstehen und in die Schule gehen. Manche Eltern fangen an, sich gehen zu lassen. Oft ist hier das Essen sogar eine Kompensation für verstellte Chancen in anderen Lebensbereichen: Wenn wir uns schon sonst nichts leisten können, soll es uns wenigstens beim Essen an nichts fehlen: viel Fleisch, vieles, was sättigt. Solche Mütter richten sich auch oft nach den Vorlieben der Männer und Kinder - ohne in Erfahrung zu bringen, was die sich tagsüber alles einverleibt haben. Abends gibt's dann trotzdem das volle Programm. Da können Sie zusehen, wie Adipositas entsteht.
Reeh: Da gibt's Fleisch, Nudeln, Pommes, Pizza. Und der Höhepunkt am Wochenende ist: gegrilltes halbes Schwein auf Toast.
Menschen werden bequemer
chrismon: Können die Menschen heute noch kochen oder nicht?
Reeh: Sie können nicht weniger kochen als früher, aber sie werden immer bequemer. Tütchen auf, drüber damit, fertig.
Meier-Gräwe: Und dabei schauen sie sich Ihre TV-Sendungen an. Und essen Chips dabei.
chrismon: Oje, verfällt die Essenskultur?
Meier-Gräwe: Nein. Heute lassen sich die Menschen für das tägliche Essen sogar durchschnittlich zwanzig Minuten mehr Zeit als vor zehn Jahren. Das hat mich überrascht. Das heißt allerdings nicht, dass höherwertiges Essen auf den Tisch käme. Und manchen würde ich raten, sich einen Teil dieser Zeit lieber zu bewegen. Aber mit Bewegung meine ich nicht, dass sich jeder mit seinem Teller in sein Zimmer zurückzieht und sein eigenes Fernsehprogramm anschaut.
chrismon: Man kennt ja den Rat von Pädagogen: Essen Sie einmal am Tag warm mit den Kindern! Ist das überhaupt wichtig?
Reeh: Es ist nicht notwendig.
Meier-Gräwe: Warm ist nicht wichtig, zusammen essen schon.
Kinder werden zu wenig einbezogen
chrismon: Sollen Eltern ihre Kinder zur Hilfe in der Küche anhalten?
Reeh: Unbedingt. Ich stand mit sechs Jahren auf einem Stuhl am Herd und habe mir von meiner Großmutter erklären lassen, wie das geht beim Kochen. Sie hat mir erklärt, welches Gemüse in die Suppe kommt, wie sie das Fleisch vorbereitet. Mit acht konnte ich schon viele Rezepte auswendig.
Meier-Gräwe: Wenn Sie solche kulinarischen Kompetenzen von zu Hause mitbekommen, haben Sie ein ganzes Leben was davon. Leider müssen wir beobachten, dass Kinder immer weniger einbezogen werden beim Kochen. Das trifft für alle Bildungsgruppen zu.
chrismon: Wie kommt das?
Meier-Gräwe: Das hat viel mit dem Zeitdruck der Frauen zu tun. Sie sagen: Das Gepansche brauche ich neben all meiner anderen Arbeit nicht auch noch.
Reeh: Das höre ich bei meinen Kochkursen von den Kindern auch. Die würden schon gern mitmachen. Aber die Eltern sagen: Danach sieht es immer aus, als wäre 'ne Bombe eingeschlagen.
Am besten selber kochen
chrismon: Dann ist das Kochen also doch ein interessantes Fach für die Schulen?
Meier-Gräwe: Unbedingt. Es müsste in den Schulen als Teil des Bildungsauftrags gesehen werden. Die Konzentration auf Schreiben, Lesen, Rechnen und auf das, was im Erwerbsleben vermarktet werden kann, ist falsch. Manche Lehrer haben das begriffen. Andere klagen darüber, sie seien nur Reparaturbetrieb für all die Dinge, die in den Familien nicht funktionieren. Das ist aber zu kurz gedacht.
Reeh: Ja: Selber machen! Schüler auch mal für andere Schüler kochen lassen. Und zwar mit frischen Sachen. Die Realität, zumindest in den Schulküchen, ist: Man holt die vorgeschälten Kartoffeln aus dem Vakuum. Die Soßen kommen fertig aus dem Eimer. Alles wird zusammengerührt. Dafür braucht man nicht einmal mehr einen Koch. Ich bin schon mit Wagenladungen frischer Sachen in Schulen gefahren. Die Anregungen fruchten nicht. Manche Mitarbeiter in den Küchen blockieren auch, weil sie Mehrarbeit scheuen. Ich kenne aber auch eine Kita, in der ein Koch mit frischen Sachen arbeitet. Das Land bezahlt den Koch, Väter helfen einmal im Monat in der Küche, Eltern bezahlen das Essen.
Meier-Gräwe: Aber wenn die Förderung ausläuft, dann bleiben solche Projekte allzu oft in den Kinderschuhen stecken. Außerdem sind vor zehn Jahren in vielen Schulen die Küchen ausgebaut und zu Computerräumen umfunktioniert worden. Das zurückzudrehen ist sehr schwer.
Kinder wollen Drei-Gänge-Menü kochen
chrismon: Was für Kinder machen denn bei Ihnen Kochkurse, Herr Reeh?
Reeh: Das sind Mittelschichtkinder. Entweder haben sie das Kochen bis dahin noch nicht gelernt - oder es ist dann schon so weit, dass ich ganz erschrocken bin: Da bringen Dreizehnjährige ihre eigenen Messer mit und zeigen den anderen Kindern, wie man Messer schärft. Vor zehn Jahren haben wir Spaghetti bolognese gekocht, frische Nudeln gemacht, die Sauce aus frischen Tomaten - das finden die Kinder heute langweilig. Die wollen Drei-Gänge-Menüs! Ente in Orangensauce mit Zucchini-Gratin, vorweg eine getrüffelte Maronensuppe, zum Dessert einen Schokoladenstrudel mit Gewürzbirnen.
chrismon: Sind das später die Männer, die sich inszenieren wollen beim Kochen?
Reeh: Ja! Das sind Leute, die wollen ein Publikum, die nehmen das Kochen zur Selbstdarstellung. Zum Beispiel hab ich einen Automechaniker hier, der kommt einmal die Woche zum Kochen. Und er kocht zu Hause, wenn Besuch kommt. Sonst allerdings nicht.
chrismon: Was ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen - bei Ihnen in der Kochschule?
Reeh: Frauen sagen oft, sie hätten zwei linke Hände, und anfangs denke ich dann auch: Na ja, du könntest es ja auch lassen. Dann zeigt sich: Die können es gut! Die trauen sich nur nicht. Und die Männer - die denken, sie könnten alles. Denen muss ich dann sagen, lass mal, du musst nicht drücken, sondern das Messer gleiten lassen, du sollst das Gemüse ja nicht zerquetschen. Männer sind immer so "druff". Frauen sind feinfühliger und haben ein anderes Gespür für Geschmack.
Brutaler Ton in der Küche
chrismon: Warum gibt es dann nur so wenige Sterneköchinnen?
Reeh: Der Job ist hart! Ich stehe jeden Tag zwölf, dreizehn Stunden nur in der Küche - plus Büro. Ich war 14, als ich im Hotel anfing, da musste ich Kartoffelsäcke in den Keller tragen, 50 Kilo! Wenn Mädchen den Beruf des Kochs lernen, haben sie oft viel Spaß und es geht ihnen gut. Später geben viele von ihnen auf: Es ist einfach zu hart. Auch der brutale Ton in der Küche hat sich nicht verändert, das ist immer noch wie vor fünfzig Jahren.
chrismon: Brüllen denn Köchinnen nicht?
Reeh: Doch. Aber nur wenige kommen so weit, dass sie brüllen dürfen. Die meisten da oben sind Tyrannen - wenn auch oft liebenswerte Tyrannen. Das ist ein harter Job.
Männer kochen zur Profilierung
Meier-Gräwe: Was mir auffällt: Solange das Kochen eine Alltagsarbeit ist, die routinemäßig 365 Mal im Jahr geleistet werden muss und für die man wenig Anerkennung und kein Geld kriegt, so lange ist es in Frauenhand, immer noch. In Ausnahmesituationen - Besuch, ein Publikum, vor dem man sich in Szene setzen kann - sind die Männer dran. Und sobald das Kochen Reputation verspricht und gutes Geld, entwickeln Männer Fertigkeiten, die sie angeblich zu Hause nicht haben. Das ist schon interessant.
chrismon: Männer simulieren also nur die Mitarbeit im Haushalt?
Meier-Gräwe: Männer haben einen Hang dazu, sich einen Analphabetenstatus zu bewahren und auch damit zu kokettieren.
Reeh: Männer sind faul!
chrismon: Frau Meier-Gräwe, Sie haben Familien untersucht, in denen die Mütter berufstätig sind. Sorgen die denn nicht dafür, dass ihre Männer im Haushalt genauso mit anpacken?
Meier-Gräwe: Jeder sucht sich seinen Bereich, wo er kompetent ist, und lässt sich da ungern hineinreden. Frauen, die morgens irgendwo putzen gehen, beziehen daraus keine Identität - die beziehen sie aus ihrer Rolle als Versorgerin der Familie. Das ist bei der vollzeitbeschäftigten Fachärztin ganz anders. Die würde sich eine Entlastung wünschen - aber ihr Mann ist in der Regel auch stark beschäftigt. Wir sind aber auch in Zukunft auf die weibliche Erwerbsarbeit angewiesen. Deshalb müssen wir für solche Familien viel mehr unterstützende Angebote machen.
chrismon: Wie könnten die aussehen?
Meier-Gräwe: Viele gut ausgebildete Mütter essen selber tagsüber kaum etwas, denn die wenige kindbetreute Zeit, die sie haben, wollen sie nicht mit kochen und essen verbringen. Sie begnügen sich mit dem PC-Picknick. Da könnten doch ambulante Dienste durch die Büros und die Unis gehen. Erwerbstätige und ihre Familien können ein interessantes Marktsegment für Ernährungsindustrie und Caterer sein - auch gut für den Arbeitsmarkt!
chrismon: Ambulante Dienste verkaufen Imbisse aus dem Pappbecher?
Meier-Gräwe: Warum nicht, wenn die Qualität stimmt. Auch ein anständig belegtes Brot ist etwas Schönes.
Reeh: Lecker, super! Schönes Stückchen Worscht, gute Butterstulle...
chrismon: Der Stullendienst als Unterstützung für die Familien?
Meier-Gräwe: Alltag gut hinzubekommen. Die anderen, die permanent den oralen Verführungen ihrer Umwelt unterliegen und dauernd in den Honigtopf greifen möchten - denen müsste man mehr über gesunde Ernährung vermitteln, ihnen zeigen, wie es geht, und ihnen vor allem näherbringen, dass es neben dem Essen noch andere schöne und interessante Sachen gibt. Viele essen, um zu kompensieren - und dann ist das Frustessen.
Rezepte werden nachgekocht
chrismon: Herr Reeh, werden Ihre Rezepte in den Kochbüchern nachgekocht, oder dienen die Bücher nur dem Entertainment?
Reeh: Nee, die werden nachgekocht. Meine Bücher werden gekauft, 50.000 haben wir allein im Jahr 2009 verkauft, weil die Rezepte umzusetzen sind.
chrismon: Hat essen mit Macht zu tun?
Meier-Gräwe: Mit Ausdifferenzierung. Es wird wieder mehr eingesetzt als Mittel zur sozialen Unterscheidung. Mehr vielleicht noch als vor zwanzig Jahren.
Reeh: Das erlebe ich auch bei meinen Gästen. Sie erzählen mit Stolz, in welchen Restaurants sie waren oder dass sie nur Bio verwenden. Was mich aber traurig macht, ist: Die Leute denken, es sei tatsächlich bio drin, wenn bio draufsteht. Da muss der Staat noch engere Grenzen ziehen und Klarheit schaffen: Bio sind ausschließlich naturbelassene Lebensmittel.
chrismon: Was brauchen wir noch? Das Betreuungsgeld?
Reeh: Damit wird bloß ein größerer Flachbildschirm gekauft.
Meier-Gräwe: Das Geld landet sehr oft überhaupt nicht bei den Kindern. An den Problemstrukturen dieser Haushalte ändert sich mit 150 Euro gar nichts, und auch für die gut ausgebildeten Eltern bringt das wenig.
Die Extreme nehmen zu
chrismon: Überernährte Kinder hier, essgestörte Kinder dort. Die Extreme scheinen zuzunehmen...
Meier-Gräwe: Wir reden tatsächlich so viel über Übergewicht, aber das andere Extrem, die übermäßige Disziplinierung bei jungen Frauen, beunruhigt mich auch. Die Überidentifikation mit Sc önheitsidealen führt dazu, dass Mädchen und zunehmend auch Jungen gar nicht mehr genussvoll essen. Das sind oft ganz tragische Geschichten. Schon kleine Mädchen wissen, was eine Diät ist, die kontrollieren ihr Körpergewicht - oft der Einstieg in eine Essstörung.
Reeh: Das fängt sehr früh an, dass manche Kids kein Fett essen wollen, Butter, oje! Aber ohne Fett schmeckt's nicht!
Meier-Gräwe: Wir müssen aufpassen, dass in der Zukunftsgesellschaft nicht eine immer kleinere Gruppe von fitten, gut ausgebildeten und gesund ernährten Menschen eine immer größere Gruppe von depressiven, fehlernährten Menschen therapiert, berät und betreut. Einige Anzeichen weisen durchaus in eine solche Richtung. Da müssen wir mehr ausbalancieren.
Anne Buhrfeind ist Textchefin bei "chrismon", Eduard Kopp ist leitender Redakteur für Theologie bei chrismon. Diese Begegnung ist in der aktuellen "chrismon"-Ausgabe (1-2010) erschienen.