Aus ihrer Schreibtischschublade quellen zigtausende Wörter, akkurat ausgeschnitten aus Zeitungen und Magazinen, in Schrifttyp, Farbe und Größe unterschiedlich. Mit ihnen bastelt Herta Müller neue Texte, die sie auf eine Ansichtskarte klebt. Auf einem Din A6-Papier lässt die Literaturnobelpreisträgerin neue Sätze entstehen.
"Die Wörter sind wie ein Bahnhof. Immer wenn sie aus der Schublade rauskommen, dürfen sie abfahren. Ich weiß nicht, ob ihnen das gefällt," sagte sie bei einem Vortrag in Tübingen. Dort gab die aus dem rumänischen Banat stammende Schriftstellerin einen Einblick in ihre Schaffenswelt.
Die "Handarbeit" des Ausschneidens und Zusammenklebens sei für ihren Umgang mit dem gedruckten Wort hilfreich: Auf dem knappen Raum einer Karte könne sie sich nichts Überflüssiges erlauben: Eine Schule der Genauigkeit und Präzision - und der Kunst: "Nur wenn Wörter, die sich nicht kennen, auf ungewöhnliche Weise zusammen kommen, gibt es Poesie", erläutert Müller.
Prägende Sprache
Poesie ist es auch, wenn die Deutschrumänin in ihrem neuesten Buch "Atemschaukel" aus der Sicht eines jungen Deutschrumänen über den sowjetischen Gulag-Alltag berichtet. In einzigartiger, prägender Sprache schildert sie, wie sich Zwangsarbeit im grausamen Detail darstellt.
Sie schreibt von Zement, gefrorenen Kartoffelschalen und der sogenannten Herzschaufel: "Ich bräuchte die Herzschaufel nicht. Aber mein Hunger ist auf sie angewiesen. Ich wünschte die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr", schreibt Herta Müller. "Ich hab ihr zu danken, denn wenn ich fürs Brot schaufle, bin ich abgelenkt vom Hunger."
Mit Oskar Pastior, einem Siebenbürgener Sachsen, verband mit Herta Müller neben der deutschrumänischen Herkunft auch die Liebe zur Sprache. Bis zu seinem Tod vor drei Jahren half er der Schriftstellerin, ihr literarischer Projekt verwirklichen. Er erzählte ihr bis ins Detail von seiner Zeit im Gulag.
Deportationsgeschichte
Bevor Herta Müller Bücher schrieb, arbeitete sie in Rumänien zunächst als Übersetzerin und Deutschlehrerin, wurde aber aus dem Schuldienst entlassen, da sie nicht bereit war, mit der Geheimpolizei (Securitate) zusammenzuarbeiten. 1987 reiste sie nach Deutschland aus.
In "Atemschaukel" verarbeitet sie die Deportationsgeschichte der deutschstämmigen Rumänen. Auch die Mutter der Autorin war fünf Jahre im Arbeitslager - eine Zeit, die für immer Spuren hinterlässt.
Herta Müller schreibt in ihrem Buch dazu: "Der schwerste meiner Schätze ist mein Arbeitszwang. Er ist die Umkehr der Zwangsarbeit und ein Rettungstausch. In mir sitzt der Gnadenzwinger, ein Verwandter des Hungerengels. Er steigt mir ins Hirn, schiebt mich in die Verzauberung des Zwangs, weil ich mich fürchte, frei zu sein."
Die Schriftstellerin war bereits vor ihrer Auszeichnung als Literaturnobelpreisträgerin zu der Tübinger Veranstaltung angefragt worden. Sie hat Fans in der Neckarstadt, etwa Literaturprofessor Jürgen Wertheimer, der die Wahlberlinerin schon 2001 zur Poetikdozentur in die Universitätsstadt eingeladen hatte. Oder jetzt auch die Tübingerin Annette Tinius-Elze, die beeindruckt ist von der Literatin: "Die kleine zierliche Person macht Worte so mächtig. Sie wühlt auf."
epd