Coworking Space: Ein Schreibtisch für zwölf Euro

Coworking Space: Ein Schreibtisch für zwölf Euro
Wem als Freiberufler Zuhause die Decke auf den Kopf fällt, der kann sich in einen Coworking Space geben: In diesen Bürogebäuden werden Schreibtische einzeln vermietet. Hier arbeitet zwar auch jeder für sich, ist aber trotzdem nicht allein.
13.11.2009
Von Christina Lohner

In dem lichtdurchfluteten Café im Erdgeschoss läuft dezente Musik, hinter der Bar heizt sich die Espressomaschine auf, an zwei der hellen Holztische sitzen junge Menschen hinter ihren Laptops. Auf einer Tafel an der Wand steht nicht nur die Speisekarte, sondern auch das Passwort fürs WLAN. Geschirr klappert, ein frischer Luftzug weht durch den Raum. 10 Uhr morgens im "betahaus" an der Prinzessinnenstraße in Berlin-Kreuzberg. Es ist erstaunlich ruhig.

Ein knallgrüner, ein pinker und ein hellblauer Klebestreifen auf dem verkratzten grauen Boden weisen dem Besucher den Weg zu seinem Schreibtisch. Denn manch einer kennt seinen heutigen Arbeitsplatz noch gar nicht, wie Felice Götze, Regisseur und Drehbuchautor. Er pendelt aus beruflichen Gründen zwischen München und Berlin und ist heute zum ersten Mal hier, weil er nicht alleine in seiner Wohnung vor dem Computer sitzen will. Der 34-Jährige trägt Bart, ein grünes T-Shirt, Sneakers und unter dem Arm sein Notebook.

Folgt man der hellblauen Linie vorbei am Tresen durch den Flur, öffnet sich eine großzügige Industrieetage: "office 1". Hier reihen sich Dutzende von schwarzen Tischplatten auf Böcken mit noch mehr braunen Bürostühlen aneinander. Einige sind an diesem Morgen schon besetzt. Die weißen Wände sind nackt, eine offene Laderampe gibt den Blick auf den Hinterhof frei. Über jedem Tisch baumelt eine Dreifach-Steckdose und eine Glühbirne von der Decke. Der digitale Bohemien muss nur noch seinen Rechner hochfahren.

Nicht gemeinsam, aber nebeneinander

Der ehemalige Gewerbehof ist ein sogenannter Coworking Space: Ein Ort, an dem Freiberufler, vorwiegend aus der Kreativbranche, arbeiten - die meisten von ihnen nicht gemeinsam, aber immerhin nebeneinander. Hier sitzt der Grafiker zwischen einer PR-Beraterin und einem Fotografen, am Nachbartisch entwickelt ein junger Mann Software. In einer Ecke brütet eine studentische Initiative über ihren Notebooks, einen Raum weiter wird am Geschäftsmodell für eine Restaurantkette gefeilt.

Das ist der Kerngedanke von Coworking: Das soziale Netzwerk - nicht digital, sondern analog. Nicht Xing oder Facebook, sondern direkter Kontakt im "betahaus". Aus diesem Grund ist auch Blogger Thomas Rohde (35) zum Probearbeiten da: "In der Bibliothek zu arbeiten wäre günstiger - was dort fehlt, ist das Vernetzen. Ich würde gerne Leute treffen, die ähnlich drauf sind wie ich: aus der Kreativ- und Medienbranche, die irgendwas auf eigene Faust machen."

Laut Bundesverband der Freien Berufe gibt es derzeit über eine Million selbstständige Freiberufler in Deutschland, etwa ein Viertel davon arbeitet in freien Kulturberufen. Viele von ihnen haben ähnliche Schwierigkeiten, sie kämpfen mit der Kehrseite der Unabhängigkeit: Im Home-Office drohen Vereinsamung und Ablenkung durch Wäscheberge und bei Problemen fehlen Ansprechpartner. Von der prekären finanziellen Situation ganz zu schweigen.

Mehr Flexibilität, weniger Einsamkeit

Auch Matthias Meinecke (27) hat bis vor einem Monat zu Hause gearbeitet. "Irgendwann fällt einem die Decke auf den Kopf und die sozialen Kontakte fehlen." Deshalb ist der Software-Unternehmer mit seiner GmbH und seinem großen Monitor ins "betahaus" gezogen. Für Jens Schramm war dagegen die Flexibilität der entscheidende Grund: "Wir wussten nicht, wie wir uns weiterentwickeln, ob noch mehr Leute dazukommen. Außerdem kann ich hier schneller wieder 'raus, ich kann mich jederzeit verkleinern oder vergrößern." Der 26-Jährige mit den langen Rastazöpfen hat für seine Konzertagentur derzeit vier Arbeitsplätze in einer Ecke von "office 2" gemietet.

Die Türen des alten Lastenaufzugs krachen scheppernd nach unten und er ruckelt in den dritten Stock, der zweiten Ebene vom "betahaus". Vorbei an "dialog 2", einem der drei Meetingräume, gelangt man zu den beiden anderen großen Büros. Auch hier oben Platten auf Böcken so weit das Auge reicht. An einer hat sich inzwischen Regisseur Felice mit seinem Rechner niedergelassen, um an einem Konzept für einen Fernsehkrimi zu schreiben.

In den Ecken haben sich die Fixdesk-User eingerichtet, die ihre Schreibtische fest angemietet haben, zurzeit 15 an der Zahl. Unter einem döst friedlich ein brauner Boxer. Die Fixdesk-User zahlen 229 Euro Miete pro Monat und dürfen dafür über Nacht ihre Arbeitsmaterialien stehen und liegen lassen. Inklusive sind Schließfach, Briefkasten, zehn Stunden Meetingraum und ein eigener Schlüssel. Vereinzelte Regale sorgen für ein wenig Stauraum und Privatsphäre. Die Flexdesk-User dagegen müssen ihren Schreibtisch verlassen, wie sie ihn vorgefunden haben: leer. "Clean Desk Policy" heißt das hier.

Einen Schreibtisch für einen Tag gibt es ab zwölf Euro - je öfter man kommt, desto billiger. Wer keinen eigenen Schlüssel dazu bucht, darf nur von 9 Uhr bis 18 Uhr bleiben. Viele User, wie die Mieter genannt werden, sind allerdings froh, "diesen Druck zu haben, morgens schon so früh da zu sein, weil sie nur bis sechs bleiben können. Die sind selig, wenn sie endlich mal einen Rahmen haben und dann aber auch schön Feierabend machen können", erzählt die 28-jährige Madeleine von Mohl, Mitgründerin des "betahauses". "Es tut einfach gut, ein bisschen Tagesstruktur reinzubringen, sonst zerfließt das alles zu einem Brei und man wäscht doch die Wäsche, statt an seinem Konzept zu arbeiten," ergänzt Tonia Welter (30), die ebenfalls zum Gründerteam gehört und Designerin ist.

In der Mittagspause andere kennenlernen

Am späten Mittag treibt der Hunger Regisseur Felice wieder nach unten in die "Wissensarbeiterkantine", wie das Café auch genannt wird. Geboten werden auf dem Speiseplan Möhrensuppe, gegrillte Sandwiches, Kürbis-Pastasalat und zum Nachtisch Pflaumenkuchen. Wessen Geschmack diese Auswahl nicht trifft, kann im hauseigenen Wiki Essenswünsche äußern. Regisseur Felice nimmt mit einem Sandwich an einem Tisch Platz - alleine. Dabei würde sich die Pause anbieten, mit anderen Mietern ins Gespräch zu kommen. Die jungen Kreativen sind schließlich hier, um der Einsamkeit am heimatlichen Schreibtisch zu entfliehen. Im besten Fall entstehen in der Kaffeepause Synergien, wie Madeleine von Mohl erklärt: "Extrovertierte Leute schieben sich hier die Jobs hin und her. Wir haben einen internen E-Mail-Verteiler, darüber werden ständig Anfragen geschickt, zum Beispiel "Ich brauche einen Programmierer für folgendes Projekt". Aber es gibt natürlich auch introvertierte Leute - die sind zu Hause einsam, im Café einsam, aber auch hier einsam. Man muss sich eben doch überwinden, den anderen anzusprechen." Um dem Mut ein wenig nachzuhelfen, organisieren die sechs Betreiber jeden Monat ein Treffen, bei dem neue User ihren Tischnachbarn sich und ihre Arbeit vorstellen.

Coworking stammt aus den USA: In New York sind Büroräume rar und die Mieten entsprechend hoch, also teilt man sie kurzerhand. In Berlin hingegen gibt es genug Platz, und der Quadratmeter ist noch immer vergleichsweise günstig zu mieten. Trotzdem kommen seit April rund 80 User regelmäßig zum Arbeiten in die Prinzessinnenstraße. Täglich sitzen durchschnittlich 40 an den Schreibtischen, freitags ist es ruhiger. Platz gibt es für 120 Besucher, verteilt auf knapp 1.000 Quadratmeter. Berlin verzeichnet deutschlandweit die meisten Coworking Spaces, das "betahaus" ist das größte Projekt. Wie viele es in Deutschland insgesamt gibt, lässt sich schwer einschätzen. Denn auch normale WLAN-Cafés nennen sich gerne mal so.

Der Geräuschpegel in der oberen Etage ist niedrig, aber konstant. Sprechen ist erlaubt, allerdings in angemessener Lautstärke. Eine Mieterin räumt die Spülmaschine in der Küchenzeile ein, an den Tastaturen wird getippt. Immer wieder klingeln Handys, mit denen manche User ins Treppenhaus verschwinden. Die Stahltür dorthin knallt in regelmäßigen Abständen ins Schloss. Ein Mieter trägt Ohrenstöpsel. Felice dagegen hat sich bereits an die Geräuschkulisse gewöhnt und findet es "sogar ganz angenehm, wenn ein bisschen was um einen herum passiert". Im Büro im Erdgeschoss geht es ruhiger zu, dort hat es sich eingebürgert, nicht zu sprechen.

Ruheraum und Schlafsofa

Wem es zu laut wird oder wer Ruhe zum telefonieren braucht, kann sich in einen kleinen Ruheraum zurückziehen. Der Gründer der Restaurantkette jedoch zieht dem stillen Kämmerlein das weiße Ledersofa im dritten Stock vor. Am Nachmittag zieht er sich seine Kappe übers Gesicht und legt dort ein Nickerchen ein. Eine Sofaecke gibt es in jedem Raum, getreu dem Konzept von Tonia Welter: "Leben und Arbeiten verschmelzen immer mehr durch digitale Techniken. Wir können uns aussuchen, wo, wann und wie wir arbeiten. Deshalb gibt es keinen Zwang, sich in sterile Büroatmosphären zu zwängen, sondern man kann sie auch entspannt und wohnlich gestalten." Dafür hat sie Elemente von Wiener Kaffeehaus, Uni-Campus, Home-Office und WLAN-Café kombiniert.

Läuft alles nach Plan, wird es bald ein zweites "betahaus" geben. Es steht nur noch nicht fest, ob es in Hamburg, Lissabon oder Zürich stehen soll. Oder vielleicht doch lieber Bukarest? Die Betreiber haben eine Vision: ein weltumspannendes Netz von Coworking Spaces. In (noch ferner) Zukunft sollen die User mit ihren Tickets in Häusern auf der ganzen Welt einchecken können. Bis dahin wird es noch eine Weile dauern, doch der Start in der Prinzessinnenstraße ist dem Gründerteam gut gelungen. "Seit der Eröffnung ist durchschnittlich jeden Tag ein neuer User dazugekommen", berichtet Madeleine von Mohl. Gebastelt wird momentan noch an einer Online-Plattform, über die sich die User auch digital vernetzen können.

Regisseur Felice fährt indessen seinen Computer herunter und will sich gleich mit Freunden treffen. Seinen Laptop lässt er bis morgen früh in einem der Schließfächer. Gerade hat er einen Vertrag unterschrieben und einen Schlüssel bekommen, erst mal für einen Monat: "Ich will im Herbst noch nach Istanbul, da wollte ich mich jetzt nicht binden." Glaubt man Fixdesk-User Matthias, passt er damit perfekt ins "betahaus": "Es fühlt sich an wie eine Gemeinschaft - nicht fachlich, aber man hat die gleichen Werte: Freiheit und arbeiten, wann man will, das vereint hier alle."

Eine Übersicht über weitere Projekte gibt es bei "hallenprojekt.de".

dpa