Waffenhandel: "Fünf oder sechs Patronen sind ein paar Schuhe"

Waffenhandel: "Fünf oder sechs Patronen sind ein paar Schuhe"
Die so genannten Kleinwaffen, wie das weltberüchtigte Gewehr AK-47, sind eines der größten Probleme internationaler Friedensbemühungen. Michael Ashkenazi ist Experte für Kleinwaffen und Abrüstung am "Bonn Internation Center for Conversion" (BICC), einem Institut zur Konfliktforschung, und arbeitet dort unter anderem an der Frage, wie sich Waffen und Munition in Afrika verbreiten. Im Gespräch mit evangelisch.de bringt er Licht ins Dunkel des Kleinwaffenproblems.
10.11.2009
Die Fragen stellte Hanno Terbuyken

Evangelisch.de: Was ist das größte Problem an den so genannten Kleinwaffen – Pistolen, Gewehre und so weiter?

Ashkenazi: Das größte Problem ist, dass sie klein sind. Jeder kann sie tragen, sogar Kinder, und sie lassen sich leicht verstecken. Man kann ohne Probleme ein automatisches Gewehr unter einem Mantel verstecken. Sie sind mörderisch. Ein Magazin mit 20 oder 30 Schuss kann man in einem Feuerstoß abfeuern und damit 30 Menschen töten! Fast jeder kann sie benutzen, und wir haben Belege dafür, dass schon Acht- oder Neunjährige Kalaschnikows tragen und benutzen. Das ist das grundsätzliche Problem, im Gegensatz zu beispielsweise einem Panzer. Den steckt man nicht mal eben unter den Mantel.

Evangelisch.de: Kleinwaffen sind also klein, tödlich und leicht verfügbar. Wie viele davon gibt es weltweit?

Ashkenazi: Wollen Sie die Wahrheit oder die Legende? Die Wahrheit ist: Niemand weiß es. Buchstäblich niemand weiß es. Ich sage Ihnen, warum. Wir wissen nicht, wie viele Hersteller es gibt. Wir wissen nicht, wie viele Waffen diese Hersteller bisher gebaut haben. Wir wissen nicht, wie viele Waffen zerstört, verloren oder aus dem Verkehr gezogen wurden. Die Schätzungen reichen von 400 Millionen bis zu 800 oder 900 Millionen Waffen weltweit. Wir geben normalerweise die hilfreiche, aber fiktive Zahl von 600 Millionen Kleinwaffen an. Aber niemand weiß es wirklich.

"Kleinwaffen sind wie Schnupfen: Man wird sie nicht los"

 

Evangelisch.de: Wenn also niemand weiß, wie viele Kleinwaffen es gibt, wie soll man sie dann wieder loswerden?

Ashkenazi: Ich glaube, dass niemand heutzutage noch daran glaubt, Kleinwaffen komplett abzuschaffen, zumindest niemand, der sich professionell damit beschäftigt. Die Aufgabe ist, sie zu kontrollieren. Kleinwaffen sind wie der ganz normale Schnupfen: Man wird ihn nicht los, man kann ihn nur kontrollieren. Das müssen wir hinnehmen.

Evangelisch.de: Funktioniert diese Kontrolle?

Ashkenazi: In manchen Fällen funktioniert sie sehr gut, Deutschland ist ein Beispiel dafür. Gute Gesetzgebung, eine gute Durchsetzung der Gesetze, gute Systeme zur Staatsführung, wenig Korruption, ein Entwicklungsstand, auf dem jeder ein Stück vom Kuchen bekommt – davon hängt es ab, wie sehr Kleinwaffen ein Problem sind oder eben nicht. Es gibt Länder mit einer großen Zahl an Waffen pro Einwohner, aber wenig Problemen – Norwegen, die Schweiz, Israel. Es gibt aber auch Länder, in denen eine geringe Zahl an Waffen große Probleme verursacht, wie Ghana. Die Anzahl der Waffen und die Probleme hängen nicht unbedingt zusammen. Das wichtigste ist eine gute Staats- und Regierungsführung. Wenn die gut ist, kommt der Rest fast von allein. Kleinwaffen sind eher ein Symptom als selbst die Krankheit.

Evangelisch.de: Was müsste getan werden? Wenn soziale und politische Stabilität, gute Regierungsführung, das größte Problem sind, muss man diese Dinge angehen, um Waffenhandel und -gebrauch einzuschränken?

Ashkenazi: Ja. Wenn ein Land keine ordentliche Regierung hat, keinen vernünftigen Sicherheitsapparat, keine vernünftigen Gesetze und keinen Weg, sie durchzusetzen, ist völlig egal, was die internationale Gemeinschaft fordert: Es wird sich nichts ändern. Es gibt aber einige gute und einige schlechte Wege, das Problem der Kleinwaffen anzugehen. Zum Beispiel: Man könnte theoretisch sagen: Ab morgen gebt ihr alle eure Waffen ab, und jeden, den wir mit einer Waffe erwischen, werfen wir ins Gefängnis. Das ginge, und ich kenne mindestens einen Staat, der das versucht hat. Wenn die Polizei dann wieder weg ist, kommen am nächsten Tag die Nachbarn von der anderen Seite des Flusses, stehlen dein Vieh, zünden deine Häuser an und erschießen ein paar Leute. Manchmal erschießen sie auch viele. Und die haben ihre Waffen noch, weil das Geld und die Zeit fehlen, alle gleichzeitig einzusammeln. Das ist die Folge schlechter Regierungsführung, und wir konnten das genau so in echten Fällen dokumentieren.

Verbreitung ist kaum zu stoppen

 

Evangelisch.de: Wie kann effektive Waffenkontrolle dann aussehen?

Ashkenazi: Man braucht sanfte Überzeugungsarbeit. Man redet gar nicht darüber, die Waffen zu konfiszieren. Wenn die nächste Polizeistation vier Stunden weg ist, brauchen die Menschen Waffen, um sich selbst zu schützen. Aber wir können ihnen beispielsweise sagen: Wenn Waffen im Spiel sind, gibt es Unfälle. Wir können euch einen sichereren Umgang mit Waffen beibringen. Wenn das gelingt, kommt man nächste Woche wieder und sagt: Das hat doch funktioniert, oder? Hier ist der nächste Schritt, den ihr gehen könnt, sei es die Waffen zentral aufzubewahren oder weniger Munition mit sich herum zu tragen. So kann man ihnen Schritt für Schritt beibringen, dass Waffenkontrolle etwas Gutes ist. Wenn man das mit einer besseren Ausbildung für Polizisten und besser ausgestatteten Polizeistationen kombiniert, kommt es zu wesentlich weniger Vorfällen mit Waffen. Und das ist für mich Kontrolle.

Evangelisch.de: Was halten denn die Hauptexporteure von Waffen von solchen Maßnahmen?

Ashkenazi: Da wird es dann kompliziert, weil die Staaten eigene Interessen haben. Deutschland ist ein gutes Beispiel. Im Prinzip sind die Deutschen sehr gut darin, ihre Kleinwaffenexporte zu kontrollieren. Aber es gibt großen Druck aus der Industrie, die sagt: "Das sind Exportartikel, und wir wollen sie exportieren." Und jeder will sie kaufen. Es ist nun einmal so, dass deutsche Waffen einen sehr guten Ruf haben. Der Weg, die Exportbeschränkungen zu umgehen, ist einfach jemand anderen in Lizenz produzieren zu lassen. Wir bekommen immer wieder Anrufe aus Afrika, wo das deutsche Gewehr G3 sehr beliebt ist, um bei der Identifizierung einer Waffe zu helfen. Sie sieht aus wie ein G3, wurde aber in der Türkei oder im Iran hergestellt. Denn in der Lizenz steht nichts über das Verbot des Weiterverkaufs. Und den Iranern und bis vor kurzem auch den Türken ist egal, an wen sie verkaufen. Kalaschnikow ist das perfekte Beispiel für dieses Problem: Die Russen haben in der Sowjetzeit ihren Satellitenstaaten und Alliierten die Lizenz kostenlos überlassen. Darum werden Kalaschnikows heute in 50 oder 60 Staaten produziert. Egal wie sehr die Russen versuchen, die Verbreitung der Waffe zu stoppen, sie können es nicht.

Evangelisch.de: Versuchen sie es denn?

Ashkenazi: Ja, schon, aber nicht unbedingt aus Altruismus. Auf jeder internationalen Konferenz kommen die Russen und sagen: "Das große Problem ist, dass sie die Waffen ohne Erlaubnis kopieren, sie verletzen unser Urheberrecht." Das ist das einzige, was die Russen stört.

Evangelisch.de: Sie wollen das Geld selbst verdienen.

Ashkenazi: Richtig. Man muss zugeben, dass Deutschland beispielsweise wirklich versucht, den Export zu kontrollieren. Aber der Druck der Industrie ist hoch, und manches rutscht durch. Das kann sehr problematisch werden. Das Beispiel dafür sind die Pistolen vom Typ P1, die nach Afghanistan geschickt wurden und dort ihren Weg auf den Markt gefunden haben. Sie können sich vorstellen, was passiert, falls und wenn – und ich sage bewusst "wenn" – ein deutscher Soldat, Polizist oder Diplomat mit einer deutschen P1-Pistole erschossen wird, die die deutsche Regierung den Afghanen gegeben hat und von denen weiterverkauft wurde. Das wird eine große Katastrophe.

"Fünf oder sechs Patronen sind ein paar Schuhe"

 

Evangelisch.de: Wo sind die Brandherde des Waffenhandels? Durch welche Kanäle fließen sie?

Ashkenazi: Die erste Frage ist: Wo kommen die Waffen her? Viele kommen aus den Balkanstaaten, aus den Vorräten des ehemaligen Jugoslawiens, aus Moldau und der Ukraine, wo noch riesige Mengen russischer Waffen lagern. Dazu stellen Länder wie Kroatien und Serbien neue Kalaschnikows her, die sich gut verkaufen. Eine große Zahl Waffen kommt aus Orten wie Nordkorea, für die nur das Geld zählt. Weniger Waffen kommen zum Beispiel aus dem Iran, der ebenfalls Geld braucht, und natürlich sind Waffenlieferungen auch eine diplomatische Währung. Außerdem gibt es noch Waffenfabriken zum Beispiel in Pakistan, in denen schon seit Generationen Waffen ohne Lizenz nachgebaut werden. Viele der Waffen in Afghanistan werden tatsächlich vor Ort hergestellt! Im Norden Ghanas gibt es ähnliche Probleme. Ein Kollege von mir schätzt, dass Ghana jedes Jahr 10.000 illegale Waffen herstellt, und viele von denen werden ins Ausland verschickt. Viele Waffen kommen als breite Ströme aus verschiedenen Ländern, weswegen wir zurzeit an einem Waffenhandels-Vertrag arbeiten, der diesen Strom etwas eindämmen soll.

Das ist der eine Teil. Der andere Teil ist: Wer übernimmt den Transport? Kennen Sie Victor Bout? Er ist nur einer von vielen, die mit Waffen ihr Geld machen. Viele Transportfirmen sind auch dabei. Sie betreiben ihr normales Geschäft, und nebenbei schmuggeln sie in ihren Flugzeugen Waffen in den Kongo. Und da ist noch die Käuferseite, die Nachfrage. Es gibt eine riesige Nachfrage nach Waffen in Afrika südlich der Sahara. Teilweise von den Militärs, die dazu tendieren, ihre Waffen und Munition wieder zu "verlieren", teilweise kommt die Nachfrage aber auch von anderen bewaffneten Gruppen, Rebellen oder Kriminellen.

Evangelisch.de: So wie Sie "verlieren" sagen, klingt das sehr nach Absicht.

Ashkenazi: Ja. "Verlieren". Wenn man einen Haufen Munition oder Waffen hat, der nicht bewacht ist, der nicht registriert ist und keiner weiß, was dazukommt oder ausgegeben wird oder ein General kommt und sagt "gib mir zwei von denen und 15 von den anderen" und du nichts dagegen tun kannst, dann hat man ein Problem. Denn wir wissen: Irgendjemand wird sie verkaufen, wie man an den Pistolen in Afghanistan gesehen hat. Nur als Beispiel: Wir wissen, dass kenianische Soldaten 20 bis 50 Prozent der Munition, die sie erhalten, wieder verkaufen. Sie werden ziemlich schlecht bezahlt, und fünf oder sechs Patronen sind ein Paar Schuhe.

Evangelisch.de: Es müsste also eine gemeinsame Anstrengung vieler Staaten und Interessengruppen geben, die ihre nationalen und wirtschaftlichen Interessen zurückstellen und die Käufer, Hersteller und Nutzer von Kleinwaffen davon überzeugen, dieses profitable Geschäft aufzugeben?

Ashkenazi: Genau so ist es. Und selbst dann ist das ein klassischer Fall einer Kette, die nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Es müsste sich nur ein Akteur falsch verhalten oder die Situation einfach ignorieren, um das Ganze zu Fall zu bringen und die Waffenflut erneut in Gang zu bringen.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen.