Der kommentierte Aphorismus (VII)

Der kommentierte Aphorismus (VII)
In seiner Kolumne kommentiert Hasso Mansfeld Aphorismen. In dieser Folge hat er sich ein Wort von Rilke vorgenommen. Thema: zwischenmenschliche Beziehung.
10.11.2009
Von Hasso Mansfeld

"Weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest." - Rainer Maria Rilke, Deutscher Schriftsteller und Dichter, geboren am 04 . Dezember 1875 in Prag und gestorben am 29. Dezember 1926 nahe Montreux.


Dieser Aphorismus ist die letzte Zeile eines Gedichtes aus dem Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", des deutschen Lyrikers Rainer Maria Rilke. Der kleine Satz beschreibt die idealtypische, reife Beziehung zwischen zwei Menschen. Er drückt aus, dass in einer reifen Beziehung jeder der Partner seine eigene Entwicklung nehmen und der andere ihn in dieser Entwicklung ermutigen und unterstützen sollte.

Eine gemeinsame Entwicklung besteht aus Richtung und Geschwindigkeit, wobei es ein harmonisches Voranschreiten nur dann geben kann, wenn die Richtung übereinstimmt - Richtung als Entfaltung der Persönlichkeit. Dabei kommt es darauf an, sich sowohl an der eigenen Entwicklung, als auch an der Entwicklung des anderen gleichermaßen zu erfreuen. Allerdings sollte man sich dringend davor hüten dabei zu vergleichen. Im Vergleichen liegt immer ein starkes Defizitgefühl und ist ein sicherer Weg unglücklich zu werden. Daher darf es im Verlaufe einer Beziehung auch ruhig mal unterschiedliche Geschwindigkeiten der Entwicklung geben und es heißt jemanden ruhig seines Weges ziehen zu lassen, wenn er mal das Tempo erhöht.

Rainer Maria Rilke unterscheidet zwischen "Anhalten" und "Festhalten". Das "Anhalten" ist dabei die krankhaft, egoistische Überfrachtung einer Beziehung, die den anderen zwingt sich nach der eigenen Richtung und Geschwindigkeit zu richten. Nicht anzuhalten bedeutet hingegen in wechselseitiger Toleranz und Freiheit jedem die eigene Geschwindigkeit, dass eigene Maß zuzugestehen. Erst daraus kann das "Festhalten" - die Stabilität einer Beziehung - entstehen. Aus der Freude zweier Menschen über das gegenseitigen Anderssein, denn nur was anders ist kann sich gegenseitig ergänzen.
 


Über den Autor:

Hasso Mansfeld arbeitet als selbstständiger Kommunikations-Berater. Die Beschäftigung mit philosophischen Fragen ist fester Bestandteil seiner Beratungstätigkeit. Für seine Ideen und Kampagnen wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet.