Als erster gratulierte ausgerechnet der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad seinem afghanischen Amtskollegen Hamid Karsai zur "Wiederwahl". Das war vor einem Monat. Schon damals war klar, dass nicht nur bei der Abstimmung zuvor im Iran, sondern auch bei der am 20. August in Afghanistan manipuliert worden war. An diesem Samstag will die UN-unterstützte Beschwerdekommission (ECC) der afghanischen Wahlkommission ihre Analyse des Wahlbetrugs vorlegen. Der Glückwunsch an Karsais Adresse war deutlich verfrüht. Nach Berichten der "New York Times" und der "Washington Post" droht Afghanistan ein zweiter Durchgang der Chaos-Wahl.
Erneuter Betrug und Gewalt drohen
Nach der Übergabe der Analyse, die die ECC dann öffentlich machen will, ist es Aufgabe der Wahlkommission, ein entsprechend bereinigtes amtliches Endergebnis zu verkünden. Die Kommission hat offengelassen, wann sie das tun will. "New York Times" und "Washington Post" berichteten am Freitag, nach Abzug der gefälschten Stimmen verfehle Karsai - der nach dem vorläufigen Ergebnis von Mitte September 54,6 Prozent der Stimmen gewonnen hatte - die absolute Mehrheit, er komme nur noch auf rund 47 Prozent. Dann würde die Verfassung einen zweiten Wahlgang zwischen dem Amtsinhaber und dem Zweitplatzierten, Ex-Außenminister Abdullah Abdullah, vorschreiben.
Eine Stichwahl hätte zwar den Vorteil, dass sie die Legitimität des beschädigten Wahlprozesses zumindest ansatzweise wieder herstellen könnte: Der Westen würde vom Verdacht freigesprochen, einen Wahlbetrüger Karsai durchgewunken zu haben. Zugleich würde ein zweiter Durchgang aber große Probleme aufwerfen. Niemand könnte garantieren, dass bei einer erneuten Abstimmung weniger betrogen würde als bei der Wahl am 20. August. Die Sicherheitslage ist ein Alptraum, die Taliban würden einen zweiten Wahltag wohl erneut für eine Angriffswelle nutzen. Das Ausmaß der Gewalt vor zwei Monaten war erst nach Schließung der Wahllokale bekanntgeworden, weil die verzweifelte Regierung eine Nachrichtensperre verhängt hatte.
Zeitraubende Wahl ohne Wähler?
Zwar haben sich die zuständigen afghanischen Stellen, die Vereinten Nationen und die Internationale Schutztruppe ISAF vorsorglich auf einen zweiten Wahlgang vorbereitet. Doch am Hindukusch steht der Winter vor der Tür, der eine Abstimmung in manchen Landesteilen bald unmöglich machen könnte, die Zeit drängt. Viele Afghanen sind resigniert und halten die Wahl angesichts der Betrugs und der ausländischen Einflussnahme inzwischen für eine Farce, andere sind schlicht wahlmüde. Befürchtet wird, dass die Beteiligung noch deutlich unter die 38,7 Prozent fallen würde, die die afghanische Wahlkommission am 20. August ermittelt haben will. Eine Wahl ohne Wähler aber würde die Legitimität der nächsten Regierung infrage stellen.
Nach einer zweiten Runde würde es wieder dauern, bis ein Ergebnis ermittelt und ein Sieger erklärt würde. Seit zwei Monaten schon ist die Regierung gelähmt und der Westen ohne verlässlichen Ansprechpartner in Kabul. Die Staatengemeinschaft hat daher begrenztes Interesse an einer Stichwahl. Einen Ausweg böte eine Abmachung zwischen Karsai und Abdullah, der nach dem vorläufigen Endergebnis nur auf 28,7 Prozent der Stimmen gekommen war. Abdullah hat bereits gesagt, dass er eine zweite Wahlrunde zwar bevorzugen würde, aber gesprächsbereit sei. Tatsächlich würde er bei einer Stichwahl viel riskieren: Auch nach Abzug der gefälschten Stimmen liegt Karsai weit vor Abdullah, auf dessen Sieg bei einem zweiten Durchgang kaum jemand setzen dürfte.
Karsai in der Zwickmühle
Verlöre Abdullah, wäre er politisch schwer beschädigt. In einer Karsai-Regierung könnte er sich dagegen profilieren und dann bei der Wahl 2014 erneut antreten. Angesichts der Probleme, die eine Stichwahl aufwerfen würde, könnte er sich bei einem Verzicht darauf als Staatsmann geben, der das Wohl der Nation über seine eigenen Ambitionen stellt. Den größten Druck könnte Abdullah also vor einem möglichen zweiten Wahlgang ausüben. Entsprechend hoch pokert der Herausforderer. Am Donnerstag machte er klar, dass er sich nicht "mit ein paar Posten im Kabinett" würde abspeisen lassen.
Zugleich betonte Abdullah, seine Kernziele blieben gleich. Eines davon ist der Wechsel von einem Präsidial- zu einem parlamentarischen System. Dass das einem Präsidenten Karsai nicht gefallen kann, liegt auf der Hand. Der Amtsinhaber, der in den vergangenen Wochen auf ein schnelles Ergebnis gedrängt und den Westen immer schärfer kritisiert hat, ist in der Zwickmühle. Zwar ginge Karsai als klarer Favorit in einen zweiten Wahlgang - garantiert wäre ihm ein Sieg aber nicht. Würde er Abdullah und seine Vertrauten stattdessen in seine Regierung integrieren, dürfte es eng werden im Kabinett. Jeden Posten dort, so sagt ein westlicher Experte in Kabul, habe Karsai beim Schmieden seiner Wahlallianzen bereits doppelt versprochen.