Pferdeflüstern mit Bachelor-Abschluss

Pferdeflüstern mit Bachelor-Abschluss
In Bad Saarow ist eine europaweit einzigartige Fachhochschule entstanden: In der Nähe von Berlin lernen Studierende den gewaltfreien Umgang mit Pferden.
01.10.2009
Von Catherine Simon

Der dunkle Wallach passt auf die kleinste Bewegung auf. Seine junge Trainerin spreizt die Finger und das Pferd fällt in Galopp, sie senkt den Arm und "St. Pauli" wird langsam. Eine kleine Drehung des Körpers und er kommt vertrauensvoll in die Mitte und lässt sich die Stirn kraulen. Um sich mit Pferden zu verständigen, sind weder Peitsche noch laute Kommandos nötig - und erst recht keine Gewalt. Davon ist Deutschlands berühmteste Pferdeflüsterin Andrea Kutsch fest überzeugt. Man muss nur die Körpersprache der Vierbeiner verstehen und anwenden können. Dieses Wissen will Kutsch weitergeben. In Bad Saarow hat sie dafür eine europaweit einzigartige Fachhochschule gegründet.

In Jeans, weißer Bluse und Weste lehnt Andrea Kutsch lässig an der Balustrade. Die 41-Jährige kann sich heute aufs Zuschauen beschränken. Ihre Schülerin Justine Giolbas macht die Arbeit und braucht dafür kaum noch Hilfe. Ruhig trabt das Pferd um das zierliche Mädchen herum. Dem knapp dreijährigen Wallach mit dem Namen des Hamburger Stadtteils merkt man seine Vorgeschichte nicht mehr an. Noch vor wenigen Wochen sollte er eingeschläfert werden. Er war hochgradig aggressiv, ließ bis auf zehn Meter niemanden an sich heran, trat heftig um sich.

"Kein Pferd kommt aggressiv auf die Welt", sagt die Pferdetrainerin. Gefährliches Verhalten der Tiere sei immer das Resultat von falschem Verhalten der Menschen. "Wir geben den Pferden zu selten die Chance, Teil des Teams zu werden." Kutsch will mit dem Tier ein solches Team bilden, das Pferd soll freiwillig mitarbeiten. "Alle Pferde auf der ganzen Welt sprechen die gleiche Sprache", sagt sie. Und diese funktioniert ohne Worte. Eine schnelle Bewegung, ein direkter Blick in die Augen, ja nur ein Muskelzucken ist für das Fluchttier Pferd ein Signal.

Entwickelt hat diese Trainingsmethode der amerikanische Pferdeexperte Monty Roberts, Vorbild für den Hollywoodfilm "Der Pferdeflüsterer". Bei seinem Vater musste der heute 74-Jährige zusehen, wie Pferde brutal eingeritten wurden, man ihnen gezielt den Willen brach. Er selbst wurde unzählige Male von seinem Vater geschlagen. Roberts wollte einen anderen Weg gehen. Wochenlang beobachtete er Pferde in freier Wildbahn und wie sie sich miteinander verständigen. Er nannte ihre Sprache "Equus" (lateinisch für Pferd) und demonstrierte auf unzähligen Tourneen rund um die Welt, wie sie die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Vierbeiner verbessern kann.

Pferde spüren Unsicherheit

Die 24-jährige Justine spricht diese "Sprache" nach drei Jahren Akademie flüssig. Das sogenannte "Join Up" funktioniert: Wie an einem unsichtbaren Band gezogen, folgt St Pauli ihr durch die runde Holz-Arena, den sogenannten Roundpen. Sie hat sein Vertrauen gewonnen, indem sie ihm verständliche Signale gegeben hat.

"Jeder kann das lernen, aber dafür sind Engagement, Selbstdisziplin und Lernbereitschaft nötig", sagt Kutsch. Das Schwierigste sei, ein Bewusstsein über die eigene Körpersprache zu bekommen. Und das schafft man nicht an einem Tag. "Ein Pferd merkt, wenn man innerlich unsicher ist. Daher muss man in Einklang mit sich selbst kommen, sein Ego, den Stress und die Wut draußen lassen."

Was zunächst überzeugend klingt, könnte gleichzeitig das Problem der Methode sein, die Kutsch und Roberts propagieren. Wenn bei der Arbeit mit dem Pferd etwas nicht funktioniert, liegt es nicht am System, sondern der Mensch hat etwas falsch gemacht, vielleicht nur ein Detail übersehen. So sichert sich man sich gegen jegliche Kritik ab.

Andrea Kutsch hat bei Roberts gelernt. Im Jahr 1999 machte sie den ersten Kurs auf seiner Farm in Amerika mit, später begleitete sie ihn mehrere Jahr lang auf seinen Tourneen rund um die Welt. Sie wurde die erste Trainerin in Deutschland, die im seinem Namen Roberts' Methode lehren durfte, gründete ein Trainingscenter, gab zahlreiche Seminare und war Star einer Fernsehserie. Den wenigsten Zuschauern der Shows ist jedoch klar, wie viel langwierige und kostenintensive Arbeit in der scheinbar mühelosen Demonstration der Gewaltlosigkeit steckt.

Geboren wurde Kutsch in Frankfurt am Main. Nach einer Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau arbeitete sie in einer großen Hamburger Werbeagentur, war zwei Jahre lang Profi-Windsurferin und gründete später ihre eigene Firma für Marktforschung in der Hansestadt. Ihre wahre Berufung waren jedoch immer die Pferde.

Akademie ist staatlich anerkannt

Sie bezeichnet sich als Ganz-oder-gar-nicht-Person. Diese angeborene Hartnäckigkeit, wenn sie ein Ziel vor Augen hat, war auch nötig, um die Sache mit der Hochschule durchzuziehen. "Ich bin damit nicht gerade in offene Arme gelaufen", sagt Kutsch und lacht, "am Anfang nahm das niemand ernst, eine Hochschule für Pferdeflüsterer." Mehr als einmal habe sie daran gedacht, alles hinzuschmeißen. "Aber nicht in der Tiefe meines Herzens" sagt sie und scherzt: "Außerdem war es ja bedauerlicherweise meine Idee." Anfang September wurde die Akademie als private Fachhochschule staatlich anerkannt. Damit sind nun Bafög-Zahlungen und Stipendien möglich.

Ohne finanzstarke Unterstützer wäre aus ihrem Traum trotzdem nichts geworden. Die einige Millionen teure Anlage steht auf dem Gelände des Arosa-Ressorts, einem Luxus-Sporthotel. Chefin ist Ulrike Haselsteiner, die Frau des Vorstandsvorsitzenden des Baukonzerns Strabag, Hans Peter Haselsteiner. Sie ist Investorin und unterstützt als begeisterte Reiterin Kutschs Konzept.

Der Studiengang ist in Deutschland bislang einzigartig. In Wien und im baden-württembergischen Nürtingen gibt es ebenfalls Bachelor-Studiengänge in Pferdewissenschaften, in Göttingen wird ein Masterstudiengang angeboten. Die Schwerpunkte sind dort jedoch jeweils anders. Andrea Kutsch will vor allem eines: eine überprüfte Reit- und Trainingslehre entwickeln. "Ich möchte die Gewissheit haben, dass das, was ich tue, wirklich der beste Weg ist. Ob es tatsächlich korrekt ist und nicht nur, weil ich das glaube", sagt Kutsch. Der gewaltfreie Umgang mit Pferden steht dabei über allem.

Mit gewisser Skepsis wurde das Projekt anfangs von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung gesehen. "Es gab bisher keine Kooperation, weil wir die Ausrichtung als zu einseitig empfanden", sagt der Leiter der Deutschen Akademie des Pferdes der FN, Thies Kaspareit. "Der Hauptinhalt schien die Lehre von Monty Roberts zu sein. Nach der staatlichen Anerkennung muss man sich die Lehrpläne jetzt ansehen." Die Akademie sei darüber mit Kutsch im Gespräch. Angesichts der Vielzahl von pferdewissenschaftlichen Studiengängen, die es mittlerweile gibt, sagt Kaspareit: "Wir tun uns ohnehin ein wenig schwer zu erfassen, ob es einen Arbeitsmarkt für diese ganzen zukünftigen Akademiker gibt."

Das Pferd als Wirtschaftsfaktor

Kutsch ist sich dagegen ganz sicher: Das Pferd sei in Deutschland ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor und der Bedarf nach guten Ausbildern werde immer größer. Nicht ohne Stolz führt die Frau mit dem langen blonden Pferdeschwanz über die schmucke Anlage. "Sie werden auf dem ganzen Hof keine Peitsche oder Gerte finden", betont sie. Die meisten Pferdebesitzer können von solchen Bedingungen nur träumen. Auf dem weitläufigen Gelände gibt es eine 1.625 Quadratmeter große Reithalle, mehrere Roundpens, eine Führanlage, Reitplätze und helle Ställe für rund 100 Pferde - alles vom Feinsten.

Es ist auffallend ordentlich und sauber. Die Stallböden sind aus rutschfestem Material, Kameras hängen an den Decken, und in die Wände der Stallgasse sind mehrere Computerbildschirme eingebaut. Jedes Pferd hat hier eine elektronische Karteikarte. Täglich werden Trainingseinheiten, Gesundheitszustand und jedes problematische Verhalten des Tiers eingetragen.

"Das ist eben kein normaler Reitstall, sondern eine Hochschule. Wir wollen ja professionell sein", sagt Stephanie Ziegler. Die 25-Jährige gehört wie Justine Giolbas, Franziska Görwitz und Stephanie Birk zum ersten Jahrgang des Bachelor-Studiengangs an der Akademie für Pferdekommunikationswissenschaft. Alle vier bleiben der Hochschule als Mitarbeiterinnen erhalten. Im zweiten Jahrgang sind 14 Studenten. Von Herbst 2010 an will Kutsch jährlich 40 bis 50 Studenten aufnehmen und einen Masterstudiengang anbieten.

Der Zutritt zu der kleinen, verschworenen Gemeinschaft ist jedoch nicht ganz einfach. 4000 Pferdenarren hatten sich 2006 für den ersten Jahrgang beworben, 37 von ihnen wurden ausgewählt. Neben Abitur oder Fachhochschulreife müssen die Bewerber das bronzene Reitabzeichen mitbringen und mehrere Tests bestehen: Fitness, Teamfähigkeit und Pferdekenntnis. Von der bunt zusammen gewürfelten Truppe blieben nach wenigen Wochen nur vier Studentinnen übrig. Die meisten gingen von selbst, einige wurden gebeten zu gehen. Billig ist die Ausbildung zur Pferdeflüsterin außerdem nicht. Ein Semester kostet 3400 Euro.

Keine Ablenkung auf dem Hof

Von Luxus kann jedoch keine Rede sein. Der Wecker klingelt zwischen 6 und 7 Uhr. Dann heißt es Stalldienst: füttern, Temperatur messen, die Pferde auf die Weide bringen und ausmisten. Von 10 bis 17 Uhr stehen Vorlesungen und Seminare auf dem Programm. Neben dem Training der Pferde sind die Studentinnen auch für die Pflege der Reithalle, Ställe und Wiesen verantwortlich. "Wir sollen hier alles lernen, was wir später können müssen, um einen eigenen Hof zu führen", sagt Stephanie Ziegler.

Viel Ablenkung haben die Mädchen nicht. Kutschs Hochschule ist nur über holprige Straßen und durch dunkle Alleen erreichbar. An kleinen Seen geht es vorbei in die Einsamkeit rund 70 Kilometer südöstlich von Berlin. Keine Discos, Bars oder gar Männer könnten die Studentinnen hier auf dumme Gedanken bringen. "Der Vorteil ist, dass man wenig Ablenkung hat. Der Nachteil ist, dass man wenig Ablenkung hat", scherzt Kutsch.

Neben Tiermedizin und Problempferdetraining stehen auch Psychologie, BWL und Recht auf dem Lehrplan. Mehr als 40 Professoren unterrichten, etwa von der Freien Universität Berlin und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), sowie Tiermediziner aus Hannover und Zürich. Kutsch ist für die Praxis verantwortlich, aber auch externe Dozenten wie Monty Roberts und Springreiter Franke Sloothaak geben ihr Wissen weiter. Mit der Springreiterlegende Paul Schockemöhle gibt es eine feste Partnerschaft. Er lässt alle seine Pferde auf Kutschs Akademie ausbilden.

"Wir wollen hier neutral arbeiten und herausfinden, welches die beste Trainingsmethode ist", sagt Kutsch. Steffi Birk etwa testete mit ihrer Abschlussarbeit, wie man ein Pferd am besten zum ersten Mal sattelt. Nimmt man zuerst einen Gurt, um das Tier an den Druck zu gewöhnen oder doch gleich den Sattel? Mit 32 Pferden, in drei Gruppen eingeteilt, testete sie verschiedene Möglichkeiten und kam zu dem Schluss: Lieber gleich den Sattel drauf, dann muss sich das Pferd nur einmal an das ungewohnte Ding auf dem Rücken gewöhnen.

Gewaltfreiheit als Lebensthema

Für Kutsch ist Gewaltfreiheit das große Thema ihres Lebens. Nicht nur zwischen Mensch und Pferd, sondern auch zwischen den Menschen. "Ständig haben wir jetzt Amokläufer in Deutschland oder Gewalttaten wie neulich in der Münchner S-Bahn", sagt sie kopfschüttelnd und erzählt von den tausenden jugendlichen Straftätern im Land. "Diese Kinder müssen lernen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Gewalt ist niemals eine Lösung, weder im Umgang mit Tieren noch mit Menschen. Und die Pferde können ihnen dabei helfen."

Ein ehrenwertes Ziel, das jedoch nicht einer gewissen Naivität entbehrt. Es zu erreichen ist kaum möglich, schon wegen der damit verbundenen Kosten und der großen Zahl der Pferde, die man bräuchte. Tiere spielen zwar in vielen Therapieformen eine Rolle, aber der Glaube, der gewaltfreie Umgang mit Pferden reiche aus, um auch die Welt der Menschen von Aggressivität und Hass zu befreien, scheint doch ein wenig vermessen. Aber Kutsch ist fest entschlossen: Ein Pilotprojekt mit Berliner Schulen für gewaltbereite Jugendliche steht in den Startlöchern, ebenso eine Internetplattform, die Kinder auf der ganzen Welt miteinander vernetzen soll. Im Moment schreibt sie außerdem ein Kinderbuch, auch den Weg in die Politik hält sie sich offen.

"St. Pauli" ist für heute fertig. Zufrieden trottet er neben Justine aus dem Roundpen. Das Futter und seine Box warten auf ihn. "Ein Pferd vergisst nichts", sagt Kutsch, "Sie müssen nur das Richtige falsch machen, dann flammen alte Probleme ganz schnell wieder auf". "St. Pauli" soll das nicht mehr erfahren müssen. Daher bleibt der Wallach jetzt in der Akademie. Ein Jahr lang darf er noch ungestört aufwachsen, dann wird er fertig ausgebildet - natürlich ohne Peitschen und Sporen.

dpa