"Meine Kinder hatten völlig falsche Vorstellungen von der NS-Zeit"

Foto: epd-bild/Daniel Sambraus
"Meine Kinder hatten völlig falsche Vorstellungen von der NS-Zeit"
Ihr Werk "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" gehört zu den bekanntesten Jugendbüchern in Deutschland. Judith Kerr erzählt darin von der Flucht ihrer Familie vor den Nazis. Am 14. Juni wird die Schriftstellern 90 Jahre alt.
14.06.2013
epd
Christiane Link

Wer Judith Kerr erlebt, vergisst schnell, dass die Autorin und Illustratorin bald 90 Jahre alt wird. Voller Elan und mit viel Humor erzählt die gebürtige Berlinerin von ihrem Leben - auch von der Zeit, als sie mit ihrer jüdischen Familie vor den Nazis auf der Flucht war. Erst Mitte Mai stellte sie sich bei einem Literaturfestival im englischen Brighton den Fragen des Publikums und berichtete, wie ihre vielen Bücher entstanden sind. Dazu zählen "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" oder das Bilderbuch "Ein Tiger kommt zum Tee".

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"Ich hatte zuerst eine ganz normale Kindheit", sagt Judith Kerr, die heute in London lebt. Die Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr wurde am 14. Juni 1923 geboren. Schon als Kind habe sie gerne gezeichnet, erzählt Judith Kerr. Und sie sei gerne zur Schule gegangen.

Doch ihre Kindheitsidylle nahm ein abruptes Ende, als die Nazis 1933 an die Macht kamen. Alfred Kerr hatte sich immer kritisch über Hitler geäußert. Als ein Polizist ihren Vater warnte, dass sein Pass eingezogen werden solle, floh dieser in die Schweiz. Die Familie folgte kurze Zeit später. "Ich fand das alles sehr aufregend", erzählt Judith Kerr, die damals neun Jahre alt war, im Rückblick.

In Buchillustration fiel sie durch die Prüfung

Ihr Vater verdiente in der Schweiz nicht genug Geld, die Familie zog weiter nach Paris. "Wir hörten schreckliche Geschichten aus Deutschland, von Konzentrationslagern und dass sie Bücher verbrennen", erinnert sich Kerr an ihre Kindheitswahrnehmungen.

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In Paris lernte sie rasch Französisch, gewann sogar einen Französischwettbewerb gegen französische Kinder. Finanziell aber blieb es schwierig. "Irgendwann hatte mein Vater die Idee, ein Filmdrehbuch über Napoleons Mutter zu schreiben, aber in Frankreich interessierte sich niemand dafür". In England schaffte es Alfred Kerr, sein Drehbuch zu verkaufen. Zwar wurde der Film nie gedreht, aber er konnte die Kinder nachholen. "Meine Eltern hatten große Hoffnungen, aber für meinen Vater war es schwer, da er kein Englisch konnte", sagt Kerr. Die Familie lebte zunächst in einem schäbigen Hotel in London.

Judith Kerr besuchte später die Kunst- und Designausbildungsstätte "Central School of Arts and Crafts". Sie war auf ein Stipendium angewiesen: "Ich wollte immer Malerin werden, aber ich musste einen gewerblichen Abschluss machen wegen des Stipendiums". Während der Ausbildung hätten sich plötzlich die Studienbedingungen geändert: Alle Studenten mussten ein Diplom ablegen, darunter auch in Buchillustration, einem Kurs den Judith Kerr nur sporadisch besuchte. Ausgerechnet in dem Fach, für das sie später berühmt werden würde, fällt sie durch die Prüfung.

"Ich war nicht in der Lage, ihnen davon zu erzählen"

Mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Nigel Kneale, bekommt sie zwei Kinder. "Als meine Tochter zwei Jahre alt war, haben wir uns manchmal alleine zu Hause gelangweilt. Wir haben uns gewünscht, dass jemand zum Tee vorbeikommt", erzählt sie. Irgendwann ging sie mit ihrer Tochter in den Zoo und erfand die Geschichte, wie ein Tiger zum Tee vorbeikommt. "Als meine Kinder später beide zur Schule gingen, verarbeitete ich die Geschichte als Bilderbuch."

Auch auf die Idee zum Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", in dem sie die Geschichte der Flucht ihrer Familie verarbeitete, kam sie durch ihre Kinder: "Ich war nicht in der Lage, ihnen davon zu erzählen. Meine Tochter wollte es gar nicht hören". Und die Kinder hätten völlig falsche Vorstellungen von jener Zeit gehabt.

Judith Kerr schrieb also ihre Geschichte auf und gab sie ihren Kindern zum Lesen. 1974 wurde das Buch, das von Annemarie Böll, der Frau Heinrich Bölls, übersetzt wurde, mit den Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bis heute gehört es zu den Standardwerken der Jugendliteratur in Deutschland, 1978 wurde es verfilmt. Es folgten die Bände "Warten bis der Frieden kommt" über die Kriegszeit in London und "Eine Art Familientreffen" über die Jahre nach dem Krieg.

Ein Festessen in Berlin

Heute spreche sie "nur noch schlecht Deutsch", sagt Judith Kerr über sich. Aber sie reist noch regelmäßig nach Deutschland, das letzte Mal war sie Mitte Mai zur Verleihung des diesjährigen Alfred-Kerr-Darstellerpreises in Berlin. Ihr Bruder Michael und sie haben den Preis für junge Schauspieler vor mehr als 20 Jahren aus dem Nachlass ihres Vaters gestiftet. 2013 ging er an Julia Häusermann, eine Darstellerin mit Down-Syndrom. Die Stadt Berlin ehrte Judith Kerr mit einem Festessen und einem Eintrag ins Gästebuch.

"Bevor das 'Rosa Kaninchen' erschien, habe ich immer vermieden, nach Deutschland zu fahren", sagt Judith Kerr, die mit Berlin Kindheitserinnerungen verbindet. Aber seit Anfang der 70er Jahre habe sich Deutschland verändert: "Eine neue Generation war erwachsen geworden."