Stromlinienförmig sieht der Engel aus, wie er so waagrecht in der Luft hängt. Gerade so als würde er wirklich fliegen. In seinen Zügen mit den geschlossenen Augen und den schmerzvoll herabgezogenen Mundwinkeln spiegelt sich Leid, aber auch Scham über die Menschen, die in der Lage sind, großes Leid anzurichten.
"Der Schwebende" ist eine überlebensgroße Bronzefigur, die der Künstler Ernst Barlach (1870-1938) im Jahr 1927 als Mahnmal für die Toten des Ersten Weltkriegs geschaffen hat und die später von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Mithilfe eines Sicherungsgusses konnten nach 1945 drei weitere Exemplare der auch als "Güstrower Engel" bekannten Plastik hergestellt werden. Ein Nachguss ist ab Sonntag (16. September) in Münster in einer großen Sonderschau zum Werk Barlachs zu sehen.
Noch nie zuvor gab es so viel Barlach
Für die Ausstellung mit dem Titel "Interventionen" wurden rund 500 Exponate des Bildhauers, Grafikers und Schriftstellers zusammengetragen, die bis zum 18. November an sieben Standorten in der Domstadt präsentiert werden. "Wir zeigen Barlach in einer Komplexität, wie sie in Deutschland noch nicht zu sehen war", sagt Heike Stockhaus, Kuratorin der Hamburger Ernst-Barlach-Gesellschaft, die die Ausstellung zusammen mit dem Evangelischen Kirchenkreis Münster organisiert hat.
###mehr-info### Ein thematischer Schwerpunkt liege auf der Frage nach sozialer Verantwortung, erläutert die Kuratorin. "Barlachs künstlerische Muttersprache ist der Mensch mit allen seinen Sorgen und Nöten, aber auch seinen Träumen und Vorstellungen von einer besseren Welt." Ausstellungsorte sind das Museum für Lackkunst, das Stadttheater, das Foyer der Bezirksregierung sowie vier Kirchen.
"Barlach wollte sein Werk in Kirchenräumen sehen, weil er sie als geeignete Umgebung für seine Kunst empfand", sagt Projektleiterin Heike Plaß. Der Institution Kirche habe er zwar kritisch gegenüber gestanden. Seine Skulpturen vermittelten aber biblische Grundbotschaften wie Menschlichkeit und Nächstenliebe.
Harter Bruch zum Wesentlichen
In der evangelischen Dominikanerkirche liegt der Fokus auf der künstlerischen Entwicklung Barlachs. So ist 1906, als der Künstler von einer Russlandreise zurückkehrte, ein deutlicher Bruch in seinem Schaffen auszumachen. War er vorher noch stark im Dekorativen verhaftet, reduziert sich seine Darstellungsweise fortan immer mehr auf das Wesentliche.
Besonders deutlich wird das bei einem Vergleich der "Krautpflückerin" von 1894, Barlachs erster bedeutender Plastik mit fein ausgearbeiteten Zügen, und dem gelöst wirkenden "Singenden Mann" von 1928. Mit dem Ersten Weltkrieg drängen Themen wie Tod und Elend in den Vordergrund. Die dargestellten Menschen frieren, hungern, trauern und zweifeln.
Den Mystiker und Visionär Barlach können Besucher in der Münsteraner Apostelkirche erkunden. Themen wie Gott und Mensch sowie Motive der Auferstehung und des Übergangs stehen hier im Mittelpunkt. Sein "Schwebender Gottvater" trägt asketische Gesichtszüge. Neben großer Ernsthaftigkeit strahlt die Gestalt mit den offen nach vorne gestreckten Händen aber auch viel Güte und Freundlichkeit aus. Hinter dem Altar sitzt "Mutter Erde", fest mit dem Boden verhaftet, während um sie herum Figuren den Blick spirituell gen Himmel richten.
###mehr-links###Das Museum für Lackkunst zeigt 50 Zeichnungen aus allen Schaffensperioden Barlachs, Kunstwerke der Linienführung, die mit scheinbar kleinstem Aufwand größte Ausdruckskraft erzeugen. Das Stadttheater präsentiert historische Plakate zu Ausstellungen des Künstlers und gibt damit einen Überblick über die unterschiedliche Deutung seines Werks über einen Zeitraum von 80 Jahren.
Das Foyer der Bezirksregierung rückt die Gestalt des großen Bettlers von 1930 ins Zentrum, während die Erlöserkirche Barlachs schriftstellerisches Schaffen dokumentiert. Ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Lesungen und Konzerten begleitet die Ausstellung.