"Nahezu umgekehrte Mariengeschichte"

Foto: Jerry BAUER/Opale
"Nahezu umgekehrte Mariengeschichte"
John Coetzee liest aus neuem Roman "Die Kindheit Jesu"
Weil er Fiktion und Fakten mischt, gibt er Rätsel auf. Weil er lakonisch über Gleichgültigkeit schreibt, verstört er. Nun las der öffentlichkeitsscheue Nobelpreisträger John Maxwell Coetzee überraschend aus seinem neuen Buch, das 2013 erscheint.

16.09.2012
epd
Elvira Treffinger

Er kommt so unauffällig in den Saal, als wäre er ein Zuhörer. Zurückhaltend schreitet der südafrikanische Literaturnobelpreisträger John Maxwell Coetzee auf die Bühne, um am Dienstagabend in Frankfurt am Main aus seinem noch nicht veröffentlichten Roman "Die Kindheit Jesu" zu lesen. Überraschend. Denn der 72-jährige Autor und Essayist, der zu den Großen der Weltliteratur gezählt wird, tritt nur äußerst selten öffentlich auf. Interviews gibt er so gut wie gar nicht.

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Nun steht der hagere Mann mit dem lichtem weißen Haar, weichem Bart und gebräunter hoher Stirn aufrecht am Rednerpult. Er liest eine Passage auf Deutsch, vorsichtig und mit ganz leichtem Akzent, im Englischen ist seine kehlige Stimme deutlich sicherer. "Das ist eine Weltpremiere", sagte Coetzees deutscher Lektor Hans Jürgen Balmes vom S. Fischer Verlag. "The Childhood of Jesus" soll im Mai 2013 erscheinen, die deutsche Übersetzung bald danach im Herbst.

Situationen erinnern an Kafka

Der Roman erzählt von Flüchtlingen in einem fiktiven spanischsprachigen Land: Ein Mann und ein Kind, die die neuen Namen Simon und David erhielten, brauchen nach sechs Wochen Flüchtlingscamp in der Wüste Unterkunft und Arbeit. Und sie suchen eine Mutter für das Kind. Dabei landen sie in einem Labyrinth der Bürokratie. Lektor Balmes spricht von einer "nahezu umgekehrten Mariengeschichte", die an die Flucht Jesu aus Ägypten und an die biblische Geschichte in Bethlehem erinnere. Er erkennt ein diskretes Geflecht an religiösen Bezügen in dem Text.

Für die Frankfurter Anglistik-Professorin Julika Griem erleben die Romanfiguren "geradezu kafkaeske Situationen" und stellten sich den Komplikationen des Lebens mit Ernst und Würde. Coetzees neues Buch spiegele den "gebrochenen Zeithorizont" von Flüchtlingen wider, sagte sie. Der Leser erfahre nicht, woher sie kämen und wohin sie wollten. Auch die Beziehung zwischen Mann und Kind gibt Rätsel auf. "Er ist nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn, ich bin für ihn verantwortlich", sagt Simon in dem Roman.

Gegen liebgewordene Denk- und Rederoutinen

Die Anglistin sieht in dem Buch ein Thema Theodor W. Adornos aufgegriffen: "Gibt es ein gutes Leben im falschen?" Hafenarbeiter und Nachbarinnen fänden darauf überraschende Antworten. Coetzee, der sich für die deutschen Denker Kafka, Hofmannsthal und Heidegger interessiere, schneide mit "chirurgischer Präzision" an liebgewordenen Denk- und Rederoutinen.

###mehr-info###Coetzee selbst lehnt es seit langem ab, seine Bücher zu erklären. Auch in Frankfurt gab er dazu keinen Kommentar ab. In einem schriftlich geführten Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung" im November 2011 sagte er, es falle ihm schwer, sich in die Stimmung zurückzuversetzen, in der er ein Buch verfasst habe: "Deshalb zögere ich auch, sie in der Öffentlichkeit zu interpretieren, denn ich fürchte, sie zu verraten."

In vielen seiner Bücher vermischt Coetzee Fiktion und Realität, rüttelt durch seine lakonischen und schonungslosen Beobachtungen auf. Diesem Stil scheint er im neuen Buch treuzubleiben. So bleibt eine Stelle im Roman seltsam emotionslos, als Simon aufbegehrt und schreit: "Warum behandeln Sie uns so - wie Dreck?" Der nächste Satz lautet: "Das Fenster fällt zu."

Coetzees bekanntestes Werk ist der Roman "Schande" aus dem Jahr 1999, in dem er für viele provozierend über Schuld, Sühne und Unversöhnlichkeit im Südafrika nach der Apartheid schrieb. Es trug ihm als  erstem Autor zum zweiten Mal den begehrten britischen Booker-Preis ein, den er bereits 1983 erhalten hatte.