Die Berliner Politikwissenschaftlerin Luise Molling ist nach den drei kritischen Aktionstagen an diesem Wochenende in Berlin völlig erledigt, aber auch zufrieden. Mit einem minimalen Budget, aber viel Kraft und Engagement in der Vorbereitung sei es den wenigen Aktiven gelungen, mehr als 500 Menschen zu Podiumsdiskussionen und einem kritischen Gedankenaustausch zusammenzubringen, vor allem aber auch die überregionale Presse auf das Thema aufmerksam zu machen. "Wir haben es geschafft, dass die Tafeln nicht einfach mehr nur positiv gesehen werden, sondern dass die mittlerweile allgemeine Vertafelung der Republik auch kritisch hinterfragt wird", sagt die Mitbegründerin des Kritischen Aktionsbündnisses "Armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug!".
Die Tafeln würden die Betroffenen in Dauerabhängigkeit halten, beklagt Luise Molling. Sie fordert eine politische Diskussion über Sinn und Zweck der Tafelbewegung. Denn die Tafeln würden nichts an der prekären Grundsituation der Betroffenen ändern.
"Die Menschen bleiben arm, sie bleiben gesellschaftlich ausgeschlossen. Sie verstärken sogar noch ihre Exklusion, weil sie bei den Tafeln stigmatisiert sind. Und sie werden eben nicht in die Gesellschaft integriert und nicht in die Lage versetzt, etwa mit Freunden einfach mal in ein Café oder ins Kino zu gehen. Man trifft sich nur noch bei Tafeln und Kleiderkammern", warnt Molling.
Mittlerweile sei die private Armenspeisung längst zum Teil des öffentlichen sozialen Netzes geworden. Es geht nicht mehr um die Linderung einer akuten Not oder um Lückenfüllung. Im Gegenteil seien die Tafeln längst entgegen ihrer ursprünglichen Intention Teil der Grundversorgung geworden, ohne jedoch, dass die Betroffenen darauf einen Rechtsanspruch hätten. Immer wieder käme es zu Aussagen etwa aus Jobcentern, dass die Hartz-IV-Empfänger doch zur Tafel gehen könnten. Das diene dann als Begründung dafür, dass der Staat nicht mehr Geld für den Lebensunterhalt der Bedürftigen zahlt, so die Kritik des Aktionsbündnisses.
"Das ist eine Massenabfertigung unterhalb der Menschenwürde"
Für Werner Franke, Pressesprecher beim deutschen Armutsnetzwerk, ist dies ein Skandal und eine Fehlentwicklung. "Was wäre, wenn die ganzen Ehrenamtler urplötzlich mal aufhören würden? Das Ehrenamt ist da ja nur nötig, weil sich die Politik aus der Verantwortung gestohlen hat", erbost sich Franke. Statt auf Almosen angewiesen zu sein, sollten besser Mindestlöhne eingeführt oder die Grundsicherung angehoben werden. Die Politik werde aber gerade durch die Tafeln von ihrer Pflicht entbunden, den Menschen ein normales Leben zu ermöglichen.
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Die Tafelbetreiber selber betonen immer wieder, dass die Essensausgaben dazu da seien, dass die Menschen ihre Würde behalten können. Diese Aussage löst bei den Betroffenen auf den Berliner kritischen Aktionstagen Gelächter bis Wut aus. "Die Menschen, die dort in der Schlange stehen, das ist eine Massenabfertigung, das ist unterhalb der Menschenwürde", klagt Franke.
Der gelernte Ingenieur Dietmar Hamann etwa ist jahrelang zur Tafel gegangen. Jetzt engagiert er sich lieber im Armutsnetzwerk für die Abschaffung der Tafeln. "Nein das ist gegen die Menschenwürde, wenn man gezwungen ist, irgendwelche Almosen nehmen zu müssen. Dass es jetzt schon 20 Jahre Tafeln gibt, ist kein Grund zum Feiern, sondern ein Trauerspiel", meint der Betroffene aus dem mecklenburgischen Sulingen. Nicht umsonst würden gerade in den kleineren Kommunen und Städten die Tafeln meist am Rande betrieben, in Gewerbegebieten oder Kellern, damit die Armen und Betroffenen nicht das öffentliche Bild stören.
"Am besten wäre, wenn die Tafeln das mal mitten auf dem Marktplatz machen würden, damit mal alle sehen, wie viele Leute schon arm und abhängig sind", meint Hamann. "Und dann hat man ja auch keinerlei Anrecht auf irgendwelche Lebensmittel. Bei uns in Sande hat sich der Leiter der Tafel wie ein Diktator aufgespielt und die Leute diffamiert. Das war schrecklich", erinnert sich Helma Hinrichs, die sich mittlerweile ebenfalls kritisch im Armutsnetzwerk engagiert.
Die ursprüngliche Idee, Obach- und Wohnungslose mit Nahrungsmitteln zu versorgen, wird heute so gut wie gar nicht mehr erfüllt. Das liegt unter anderem daran, dass man bei den meisten Tafeln zuerst seine Bedürftigkeit nachweisen muss. Dafür braucht man aber eine Bestätigung vom Amt, dass man etwa ALG-II-Empfänger ist. Für Menschen ohne Wohnsitz ist der Aufwand zu hoch: "Wenn ich dann unterwegs bin, dann muss ich mich bei jedem Amt immer wieder neu melden und immer wieder ein neues Blatt bringen. Das geht auf die Dauer gar nicht. Da kämen ja im Laufe der Zeit hunderte Blätter zusammen. Und wenn so eine Tafel nur einmal in der Woche auf hat, nützt mir das auch nichts, wenn ich unterwegs bin", schildert der Obdachlose Jürgen Schneider.
"Die Tafeln passen sehr gut in das neoliberale Zeitalter"
Zumal die Tafeln meist nicht dort entstehen, wo die Not am größten ist, sondern wo die meisten Bürger Zeit und Kraft haben, um sich engagieren zu können. Oft sind es Rentner, die ausgesorgt haben und noch etwas Sinnvolles tun möchten. Kein Wunder daher, dass die meisten Tafeln in Bayern und Baden-Württemberg entstehen, dort, wo der Bedarf und die Arbeitslosigkeit am geringsten sind, kritisiert das Aktionsbündnis.
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Politikwissenschaftlerin Luise Molling fordert auch die Berücksichtigung der Tafelbewegung im nationalen Armutsbericht. Erst wenn genau untersucht werde, wie viele Tafeln es gibt und wie viele Millionen Bedürftige darüber versorgt werden, werde vielleicht der Zynismus deutlich. Die Tafeln unterstützen ihrer Meinung nach ein System, das Armut im großen Stil erst möglich macht.
"Die Tafeln passen sehr gut in das neoliberale Zeitalter. Sie sind ein Modell, das der Lebensmittelwirtschaft entgegen kommt und deren Profite noch steigert, da sie ja ihre Entsorgungskosten sparen, wenn sie an die Tafeln spenden und dafür oft auch noch Spendenquittungen bekommen. Die Unternehmen, die niedrige Löhne zahlen, sind dann wieder Tafelsponsoren. Sie nutzen die Tafeln, um dann noch ihr Image aufzupolieren", warnt Molling.