Ob Dietrich Bonhoeffers Verse "Von guten Mächten" ins Evangelische Gesangbuch gehören, war einst hochumstritten. Vielen galten sie als zu privat, entstammen sie doch einem Brief an seine Verlobte, den der Theologe 1944 wenige Monate vor seiner Ermordung aus der Gestapo-Haft schrieb. Der Disput, welche der verschiedenen Vertonungen besser zu den mittlerweile weltbekannten Zeilen passt, dauert sogar bis heute an.
Mit der Genauigkeit eines Buchhalters hat Karl Christian Thust Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, Musik und Text des vertonten Gedichts analysiert - so, wie auch bei 268 weiteren Liedern des Evangelischen Gesangbuchs. Wer die Geschichten zu den jeweiligen Liedern kennt, dürfte manchen Kirchenchoral mit etwas anderen Gefühlen anstimmen.
"Es ist, als ob man 50 oder 60 Jahre verheiratet ist, und dann plötzlich bemerkt man, was für eine tolle Frau man hat", sagt der Ruhestandspfarrer aus Ingelheim bei Mainz über seine Leidenschaft für Versmaße und Melodiefolgen im Gesangbuch. Thust ist Hymnologe, er befasst sich seit Jahrzehnten mit Kirchenliedern. Sein privates Archiv mit Notizen und gesammelten Fachaufsätzen umfasst inzwischen über 40 dicke Aktenordner. Seit zehn Jahren arbeitet er an einem kompakten Lexikon deutschsprachiger Kirchenlieder. Der erste knapp 500 Seiten starke Band ist inzwischen im Bärenreiter-Verlag erschienen, der zweite soll bis 2015 folgen.
"Zur Bibel existieren alle möglichen Kommentare, zum Gesangbuch eigenartigerweise nicht", sagt der gebürtige Schlesier, der früher auch Kirchenmusiker war. Zwar gibt es die von der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebene "Liederkunde". Die vielbändige Sammlung ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen - und nicht gerade günstig.
Ökumene funktionierte bei den Kirchenliedern
Schon ein flüchtiger Blick in Thusts Liedersammlung macht deutlich: Viele Kirchenlieder haben eine eindrucksvolle Wirkungsgeschichte. Martin Luthers "Ein feste Burg ist unser Gott" (EG 362) inspirierte Komponisten von Johann Sebastian Bach bis hin zu Claude Debussy zu Neuvertonungen oder eigenen Werken. Im Laufe der Jahrhunderte stimmten die Söldner des Dreißigjährigen Krieges den Choral ebenso an wie später die Kernkraftgegner vor der Baustelle des Kernkraftwerks Brokdorf. Er wurde als protestantisches Heldenlied bei Militärparaden missbraucht, zugleich fanden während des Nationalsozialismus Gegner der NS-Diktatur Trost in dem Text.
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Thust dokumentiert auch, wie bereits im 16. Jahrhundert, also noch zu Zeiten blutiger Konfessionskriege, etliche Luther-Lieder in das katholische Gesangbuch aufgenommen wurden - wenn auch umgedichtet und ohne Nennung des Verfassers. "Die Ökumene hat von Anfang an am ehesten bei den Kirchenliedern funktioniert", schmunzelt der Autor.
Oftmals wurden Lieder nach Zeitgeschmack und politischer Großwetterlage umgeschrieben. So wird in Luthers Kampflied "Erhalt uns Herr, bei deinem Wort" (EG 193) mittlerweile ganz allgemein um Schutz vor Feinden gebeten, wo einst in der Originalfassung ganz konkret Papst und Türken genannt wurden. Die Nationalsozialisten wiederum tilgten in ihrem antisemitischen Wahn Hinweise auf Israel und das "himmlische Jerusalem" aus den alten Texten.
Neues Gesangbuch frühestens 2030
Einst war das deutschsprachige protestantische Liedgut ein regelrechter Exportschlager. Die meisten frühen Kirchenlieder seien mit einer heute kaum noch üblichen theologischen Sorgfalt und einem enormen Bibelwissen geschrieben worden, sagt Thust. Zeitlose Werke wie die des Theologen Paul Gerhardt (1607-1676), der inmitten von Krieg, Seuchen und Leid unerschütterliche Zuversicht und grenzenloses Gottvertrauen vermittelte, würden auch deshalb heute weltweit gesungen.
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Inzwischen übernehmen die deutschsprachigen Christen selbst Lieder aus anderen Gegenden der Welt. So finden sich im aktuellen Gesangbuch auch Gesänge wie das Osterlied "Er ist erstanden, Halleluja" (EG 116), dessen Originalfassung in Tansania zur Melodie eines afrikanischen Hochzeitsliedes entstanden war oder das Vaterunser als Calypso aus der Karibik (EG 188).
Wann das zuletzt in den 1990er Jahren neu zusammengestellte Evangelische Gesangbuch das nächste Mal überarbeitet wird, ist zurzeit noch völlig offen. Es gebe lediglich erste Überlegungen in diese Richtung, heißt es im Kirchenamt der EKD in Hannover. "Es kann als ausgeschlossen gelten, dass deutlich vor 2030 wieder ein neues Gesangbuch erscheint", sagt Sprecher Reinhard Mawick. Die eigentliche Arbeit und vor allem die Abstimmung zwischen den deutschen Landeskirchen sowie den Protestanten in Österreich, Luxemburg und dem Elsass werde mindestens 15 Jahre in Anspruch nehmen.