Geschlagen und gedemütigt: Viele Kinder wurden früher in staatlichen oder kirchlichen Heimen systematisch misshandelt, manche der Opfer tragen bis heute an ihren seelischen Wunden. Im ZDF-Drama "Und alle haben geschwiegen" geht es um die junge Luisa, die Anfang der 1960er Jahre in einem Kinderheim durch die Hölle muss. Einziger Lichtblick für das Mädchen ist der Heimzögling Paul, mit dem sie schließlich Fluchtpläne schmiedet.
Jahrzehnte später will Luisa (Senta Berger) ihr Schweigen brechen und gemeinsam mit Paul (Matthias Habich) an die Öffentlichkeit gehen. Der Film von Regisseur Dror Zahavi basiert auf Peter Wensierskis Sachbuch "Schläge im Namen des Herrn", das vor einigen Jahren eine breite gesellschaftliche Debatte um die frühere Misshandlung von Kindern in Erziehungsheimen auslöste.
Frau Berger, "Und alle haben geschwiegen" beschäftigt sich mit der Misshandlung von Heimkindern in den sechziger Jahren. Für Sie dagegen waren die Sechziger eine tolle Zeit, oder?
Senta Berger: Sie haben ganz recht, das war für mich eine sehr eindrückliche, wichtige Zeit. Ich bin damals mit 19 nach Berlin gekommen und habe angefangen, Filme zu machen und mein Leben Schritt für Schritt zu gestalten. Ich denke sehr gerne an dieses Jahrzehnt zurück, weil ich so viel erlebt habe – beruflich und privat, ich habe zu der Zeit ja auch meinen Mann kennengelernt. Anfang 1964 bin ich nach Amerika gegangen und habe dort ein paar Jahre gearbeitet. Das Fundament für meine Entwicklung ist ganz bestimmt in den Sechzigern gelegt worden.
###mehr-personen###Eine Ära des Aufbruchs und neuer Ideen, aber eben auch eine Zeit, in der Gewalt gegen Heimkinder noch weitverbreitet war ...
Berger: Stimmt, aber das war ja kein typisches Phänomen der Sechziger, sondern etwas, das auch in den sechziger Jahren noch geschehen konnte und so alltäglich war, dass niemand hingeschaut hat. Viele der Opfer von damals haben lange Zeit geschwiegen und erst vor wenigen Jahren angefangen, von ihrem Leid zu berichten. Sie hatten den Mut zu sagen: Ich habe eine Geschichte zu erzählen, und sie gehört auch zu unserer Gesellschaft. Man darf aber nicht vergessen, dass es in den Sechzigern auch erste Schritte gab, die Missstände der so genannten Schwarzen Pädagogik zu beseitigen. Es gab auch erste Wohngemeinschaften, die geflohene Heimkinder aufgenommen haben, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die Hinwendung zu Minderheiten und der Versuch, sie zu unterstützen, ist auch ein Phänomen der Sechziger.
Warum ist es heute noch wichtig, auf die damaligen Missstände in den Heimen hinzuweisen?
Berger: Weil es immer wichtig ist, dass sich eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart beschäftigt. Wir müssen hinschauen, aber wir schauen eben nicht immer hin, denken Sie an Asylbewerber, die in Heimen abgeschoben unter den schrecklichsten Umständen leben müssen, oder die Bootsflüchtlinge, die zu Tausenden vor unseren Küsten ersaufen. Mag schon sein, dass sich die Strukturen in Heimen oder Schulen geändert haben – trotzdem gibt es immer noch Missbrauch, es gibt Sadismus und es gibt Rassismus. Es hat sich mit Sicherheit viel zum Positiven verändert in der Heimerziehung, doch diese spezielle Geschichte gehört eben zu uns und ist es wert, erzählt zu werden.
Kennen Sie persönlich jemanden, der damals als Heimkind gelitten hat?
Berger: Ja, aber ich sage das eigentlich ungern, weil ich nicht glaube, dass man Mitgefühl nur dann empfinden kann, wenn man dieses Thema in seiner persönlichen Umgebung beobachtet hat. Ich glaube, wir können uns das alle sehr gut vorstellen, auch wenn wir nicht indirekt oder direkt betroffen sind. Hier geht es um Mitgefühl.
"Ich habe mal von meinem sehr jähzornigen Vater eine gefangen."
Früher wurde ja nicht nur in Heimen geprügelt, Gewalt gegen Kinder galt als normal. Haben Sie selber Erfahrungen damit gemacht?
Berger: Nein, überhaupt nicht. Ich habe mal von meinen sehr jähzornigen Vater eine gefangen, das war es dann auch schon (lacht). Mein Mann, der etwas älter ist als ich, wurde dagegen in der Schule noch mit dem Lineal geschlagen und hat gleich am ersten Schultag eine Ohrfeige bekommen, weil er seine Schultüte so stolz hergezeigt hat.
Und wie haben Sie Ihre beiden Söhne erzogen?
Berger: Gewaltfrei, würde ich sagen. Wir waren antiautoritäre Eltern und haben versucht, sie argumentativ zu erziehen. Das ist uns natürlich auch nicht immer geglückt (lacht). Ich habe immer versucht, den Kindern zu zeigen, wie man richtig lebt und dass man Fehler macht, für die man sich entschuldigen kann. Ich habe allerdings schon verstanden, dass man das Ganze nicht ausufern lassen darf und dass zwei pubertierende Knaben Regeln brauchen, die nicht immer leicht durchzusetzen waren. Darüber hat es dann schon endlose und teilweise zermürbende Auseinandersetzungen gegeben. Aber diese Auseinandersetzungen hätte es mit Sicherheit auch gegeben, wenn ich sie mit einer Ohrfeige verkürzt hätte. Zu der war ich aber Gott sei Dank eh nicht imstande (lacht).
Die Figur Luisa, die Sie im Film spielen, will über ihre schreckliche Vergangenheit im Heim sprechen. Der von Matthias Habich gespielte Paul dagegen nicht. Haben Sie für beide Positionen Verständnis?
Berger: Das hab ich. Ich denke, wenn jemand nicht darüber sprechen will, dann ist das auch sein gutes Recht. Luisa versucht, Paul ja aus diesem Schmerz herauszulösen und zum Sprechen zu bewegen. Sie legt den Finger in Pauls Wunde und überredet ihn, Gesicht zu zeigen – in dem Punkt fühle ich mich ihr sehr nahe.
"Neben den düsteren Stoffen drehe ich immer mal wieder was anderes."
Erst kürzlich haben Sie sich in einem bewegenden Film mit Kinderprostitution auseinandergesetzt, jetzt mit Missbrauch im Heim. Zwei düstere Stoffe ...
Berger: Stimmt, da steckt aber kein Plan dahinter, zwischendurch drehe ich ja auch immer mal wieder was anderes. Im Sommer habe ich zum Beispiel zwei Komödien mit Friedrich von Thun gedreht, das hat großen Spaß gemacht. Also, einen eingleisigen Weg verfolge ich keineswegs. Ich will aber dort dabei sein, wo mir Geschichten wichtig sind und ich glaube, dass sie erzählt werden müssen – und wenn sie sich besser erzählen lassen, weil da mein Name und meine Popularität dahinterstehen, dann soll mir das recht sein.
Und wie lange wollen Sie noch die Ermittlerin Eva Prohacek in der viel gelobten Reihe "Unter Verdacht" spielen?
Berger: Das weiß ich wirklich nicht, aber wir haben uns eigentlich vorgenommen, dass wir es noch mindestens zwei Jahre machen wollen.
Die Standardantwort wäre: So lange mich die Leute noch sehen wollen.
Berger: Hm, ich glaube ich werde in diesem Fall noch ein bisschen kritischer mit mir sein als "die Leute“ (lacht).