"Und plötzlich bist du Jüdin"

Foto: AP/Dan Balilty
Auf der Suche nach jüdischer Gelehrsamkeit kommen Jahr für Jahr tausende Menschen in die Stadt Safed in Israel.
"Und plötzlich bist du Jüdin"
Durch Zufall erfährt Marion Reinecke als junge Frau, dass sie jüdische Wurzeln hat. Erst reagiert sie mit Distanz, dann stellt sie Nachforschungen an - und wächst immer mehr in ihre neue Identität hinein.

Den 27. Januar und den 9. November eines jeden Jahres muss Marion Reinecke sich nie in den Terminkalender eintragen. An die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern und vor jeder Form von Rassismus zu warnen, das ist für sie "Herzensanliegen" und Lebensthema. Dennoch steht die zierliche dunkelhaarige Frau ein wenig abseits, wenn sich am an ihrem Wohnort Nümbrecht am Gedenkstein für die ehemalige Synagoge eine meist sehr überschaubare Gruppe von Teilnehmern versammelt.

Obwohl Marion Reinecke die Gedenkveranstaltungen mit Zeitzeugenberichten, Lesungen, Musik und mahnenden Worten stets mit vorbereitet, bleibt sie bei der Veranstaltung selbst lieber im Hintergrund. Als müsse sie sich davor schützen, dass ihr Trauer und Schmerz zu nahe kommen. Denn sie ist auf besondere Weise betroffen. Marion Reinecke ist selbst Jüdin. Aber das hat sie lange nicht gewusst.

Beharrliches schweigen der Großmutter

Auf das gut gehütete Familiengeheimnis stieß sie bei einer Reise nach Israel. Mitte zwanzig war sie damals und frisch verheiratet. Gemeinsam mit ihrem Mann will sie in Jerusalem Judaistik studieren. "Das Judentum hat mich merkwürdigerweise schon immer fasziniert", erinnert sich die gelernte Floristin. In der Holocaustgedenkstätte "Yad Vashem" stößt sie in den Opferlisten mehr als 500 Mal auf einen Namen, den sie sehr gut kennt. "Kirstein - diesen Namen gab es doch in der Herkunftsfamilie meines Vaters", durchfährt es sie. Die Ahnung, sie könne selbst Jüdin sein, verdichtet sich, als sie in Israel auf einen weiteren ihr bekannten Namen stößt: auf den Namen Nesher (Adler). Näscher, so hießen doch ihre Großeltern mütterlicherseits.

Marion Reinecke begann, nach ihren jüdischen Wurzeln zu forschen. Foto: Karin Vorländer

Sollte sie selbst Jüdin sein? Unvorstellbar! Schließlich ist sie doch "ganz normal" in der evangelischen Kirche, getauft, konfirmiert und getraut worden. Aber würde so nicht das in ihrer Familie geltende, aber nie begründete Verbot, Schweinefleisch zu essen, Sinn machen? Genau wie der "gefillte Fisch" und der Buchweizenpfannkuchen, zwei bei Juden beliebte Gerichte, die in ihrer Familie gelegentlich serviert werden?

Es dauert lange bis sich Marion Reinecke zu einem klärenden Gespräch mit ihrem Vater durchringt. "Ja, du hast jüdische Wurzeln", das ist alles, was er auf ihre bohrenden Fragen sagt. Mehr nicht. Die im Ruhrgebiet noch lebende Großmutter vertröstet sie auf "später" und verweigert jede Auskunft. Den Grund für dieses beharrliche Schweigen hat Marion Reinecke nie erfahren. Auch darüber, wie die Großeltern im Ruhrgebiet überlebt haben, weiß sie bis heute nichts. "Zu erfahren, dass ich jüdische Vorfahren habe, das war etwas ganz anderes als zu wissen, dass es in ihrer Familie auch italienische Vorfahren gbt. Das verändert alles."

Über Generationen unterbrochene Feier des Sabbats

Plötzlich Jüdin zu sein, das entfacht in Marion Reinecke ein Gefühlschaos aus Angst, Scham, Scheu, Stolz, Trauer, Unsicherheit und Wut. "Wer weiß, ob mich die anderen noch leiden können, wenn sie das wissen", befürchtet sie. Anfangs geht sie auf Distanz. Nein, sie will die neuen Erkenntnisse nicht wahrhaben - und kann sie doch nicht verdrängen. "Das ging einfach nicht", erinnert sie sich.

Dann beginnt Marion Reinecke mit Nachforschungen. Parallel zur komplizierten und aufwendigen Suche nach ihrer eigenen Herkunft und dem Verbleib jüdischer Vorfahren, sammelt sie Wissen über "ihr Volk". Intensiv beschäftigt sie sich mit Geschichte und Traditionen des Judentums.

Zögernd und fasziniert zugleich wächst sie hinein in die neue Identität, der sie sich nicht entziehen kann und will. "Es war mir ein Anliegen, die über Generationen unterbrochene Feier des Sabbats in meiner Familie wieder aufleben zu lassen", erinnert sie sich. Allerdings: "Ohne die Unterstützung meines Mannes, der mich ermutigt und unterstützt hat, hätte ich es wohl nicht geschafft, wirklich zu Hause zu sein in meiner jüdischen Identität", meint sie im Rückblick.

Heimat in der jüdischen Identität

Warum sie es nicht lediglich dabei belassen hat, ihre jüdischen Wurzeln einfach nur zur Kenntnis zu nehmen? Weshalb sie begonnen hat, ihr Leben mehr und mehr als Jüdin zu gestalten? Auf Fragen wie diese kann Marion Reinecke bis heute keine logisch schlüssige Antwort geben. Am ehesten findet sie sich in der Aussage ihrer ältesten Tochter wieder, die einmal gesagt hat: "Das wir jüdische Wurzeln haben, hat mich nicht überrascht. Es war, als hätte ich es immer geahnt."

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Jeden Freitagabend entzündet Marion Reinecke seither die Sabbatkerzen. Ihre fünf Kinder wachsen mit den Traditionen der jüdischen Familienfeste auf. Sederabend, Laubhüttenfest und Chanukkafest "verleihen der Woche und dem Jahr Rhythmus und Glanz und der Familie Zusammenhalt". Die äußerliche Wandlung vollzieht sich auch innerlich. Als kleines Mädchen wollte Marion Reinecke immer blond und blauäugig sein wie ihre Freundinnen. Heute freut sie sich, wenn man sie bei ihren häufigen Besuchen in Israel wegen ihres dunklen Teints für eine Einheimische hält.

Auch in ihrem Haus zeigt sich, dass Marion Reinecke in der jüdischen Identität Heimat gefunden hat. Die Mesusa, eine Pergamentrolle mit Bibelversen, hängt neben der Haustür, edle Chanukkaleuchter und Bilder mit jüdischen Motiven schmücken die Räume. In einer Wohnzimmerwand aus Jerusalemer Sandstein ist ein Mosaik mit einem altem historischen Jerusalemer Stadtplan eingelassen, in den in hebräischen Buchstaben die Namen der drei Söhne und der beiden Töchter zu lesen sind.

Jüdische Wurzeln - negative Erlebnisse

Dennoch lebt Marion Reinecke auch heute noch immer ein bisschen zwischen den Welten. Sie kocht nicht koscher. Sie gehört zu keiner Synagogengemeinde, auch wenn sie viele jüdische Freunde hat. Ihre Solidarität gilt dem Staat Israel - und dennoch ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina wie eine offene Wunde für sie.

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Ganz unbefangen kann sie sagen, dass "der Messias mein Erlöser" ist. Ihre Kirchenmitgliedschaft hat sie dennoch irgendwann beendet. Weil sie sich wünscht, dass die Kirche ihre jüdischen Wurzeln und Traditionen stärker wahr- und aufnimmt. Eine Antwort auf die Frage nach ihrer eigenen Konfession lässt sie bis jetzt offen. "Vielleicht sind wir messianische Juden", sagt sie nach kurzem Zögern.

Ihre mittlerweile erwachsenen Kinder scheinen die jüdische Identität hingegen viel selbstverständlicher angenommen zu haben. Gerade erst hat eine Tochter ein freiwilliges soziales Jahr in Israel begonnen. Als sie bei der Einreise nach ihrer Konfession gefragt wurde, gab sie "jüdisch" an. Einer der Söhne trägt die Kippa, wenn er in Köln unterwegs ist, ein anderer überlegt, ganz nach Israel zu gehen.

Doch es gibt auch negative Erlebnisse: Vor vier Jahren wurde ein Sohn auf einer Geburtstagsfeier zusammengeschlagen, weil er von seinen jüdischen Wurzeln erzählt hatte. Da meldete sich in Marion Reinecke die Angst von damals wieder. "Hätte ich doch nicht geforscht. Hätte ich doch alles auf sich beruhen lassen, dann hätte ich ihm und uns das alles erspart." Bei der nächsten Gedenkveranstaltung wird Marion Reinecke wieder dabei sein. Als Jüdin und als wache Zeitgenossin und Bürgerin wird sie mit vollem Herzen dafür einstehen, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und rechte Gewalt keine Chance mehr haben sollen.