Dietmar Müßig sprach mit dem katholischen Priester und Mitglied des Jesuitenordens Franz Bejarano s.j., der lange Jahre Gläubige mit indigenen Wurzeln auf dem Altiplano (Jesús und San Andrés de Machaca) wie auch in der Pfarrei San Ignacio de Mojos im tropischen Tiefland Boliviens pastoral begleitet hat.
56 Prozent der bolivianischen Bevölkerung sind römisch-katholisch. Weitere 19 Prozent bezeichnen sich als protestantische oder evangelische Christ*innen. Bis 2009 war der Katholizismus sogar Staatsreligion. Welche Rolle spielen die christlichen Feste für die Menschen in Bolivien?
Katholische und evangelische Christ:innen unterscheiden sich darin, welchen Sinn sie religiösen Feierlichkeiten geben. Dass die Begegnung jedoch unerlässlich ist für die Gemeinschaft, darin stimmen sie beide überein. Die Katholik::innen pflegen diese Art von Miteinander anlässlich von Heiligen- oder bestimmten Marien-Festen. Diese folgen in der Regel dem liturgischen Kalender der katholischen Kirche.
Daneben bilden auch bestimmte Zeiten aus dem bäuerlichen Jahreslauf den Anlass für solche Feste. Die evangelischen Geschwister pflegen Gemeinschaft in Form von Treffen, in deren Mittelpunkt das Wort Gottes steht. Dabei gibt es Formate der Weiterbildung aber auch solche zur Festigung des Glaubens und der Lehre. Für beide Denominationen gilt, dass über die Begegnung im Glauben hinaus das Teilen von Essen und Trinken wichtig ist. Auch Musik und Tanz sind entscheidende Elemente, denn sie drücken Freude, Begegnung und Einheit aus.
Der Katholizismus kam mit der Kolonisierung durch Spanien nach Bolivien. Haben sich Einflüsse der indigenen Religionen, die zuvor praktiziert wurden, in der heutigen Glaubenspraxis mancher Gläubigen erhalten?
Mit der Kolonialisierung oder der ersten Evangelisierung wurde den einheimischen Völkern eine Religion auferlegt, die ihrem Denken und Fühlen fremd war. Die Missionar:innen haben zeremonielle Orte zerstört und Kirchen darauf gebaut. Und sie haben versucht, die lokalen Gottheiten durch katholische Heilige oder die Jungfrau Maria zu ersetzen.
Der Widerstand unserer Völker bestand darin, das Aufgezwungene äußerlich mit Geduld zu ertragen, ohne das Bewusstsein dafür zu verlieren, was für ihr religiöses Leben im Grunde tragend war. Einige bezeichnen dies als religiösen Synkretismus. Aber der Weg, den viele Gemeinden heute einschlagen, besteht darin, die Ausdrucksformen des eigenen Glaubens neu wertzuschätzen und in einen Dialog mit der katholischen Religion darüber einzutreten, wie sich Gott im Leben des Volkes manifestiert. Dies zeigt sich sehr deutlich in der Volksfrömmigkeit.
Allerheiligen ist in erster Linie ein katholischer Feiertag. Was und wie genau wird da gefeiert?
Allerheiligen ist das Fest der Begegnung mit den Verstorbenen, mit unseren Lieben, mit den Seelen derer, die jetzt eine andere Dimension bewohnen. Deshalb ist Allerheiligen Bestandteil eines ganzen Reigens von Ritualen, die mit dem Tod zu tun haben. In den Anden beginnt dies mit der Totenwache, nachdem jemand verstorben ist. Daran schließt sich am folgenden Tag die Beerdigung an. Nach acht Tagen wird die Wäsche der verstorbenen Person gewaschen, mit Weihrauch inzensiert und verbrannt.
Dadurch werden symbolisch auch die Toten gereinigt. Im katholischen Bereich gibt es dann Messen für die Verstorbenen, nach einem Monat, nach zweien, dreien und schließlich noch einmal nach einem Jahr. Damit endet die Phase der Trauer. Dann kann man im Rahmen einer Feier die schwarze Kleidung ablegen und wieder etwas Buntes anziehen.
Wie wird Allerheiligen in den Familien gefeiert? Gibt es besondere Rituale?
Der erste November ist der Tag, an dem in den Familien die Ankunft der Verstorbenen vorbereitet wird. Denn diese kommen ihre Familie besuchen. Deshalb wird in den Häusern, in denen im vergangenen Jahr jemand verstorben ist, ein besonderer Tisch geschmückt oder gar ein Altar aufgebaut. Dieser wird mit dem Lieblingsessen der Verstorbenen bestückt oder mit Dingen, die ihnen wichtig waren. Nicht fehlen dürfen außerdem symbolische Gegenstände wie eine Leiter, um den Ab- und Wiederaufstieg zu erleichtern, ein Lama oder anderes Transporttier für die weite Reise sowie Zuckerrohr als Süßigkeit und ein Getränk gegen den Durst.
Schließlich braucht es die Tanta Wawas, aus Kuchenteig gebackene Figuren, welche die Verstorbenen darstellen. Wenn alles bereitet ist, treffen die Seelen der Familienangehörigen ein; als erstes die der Kinder gegen Mittag des 1. November. Gegen Abend kommen dann die Seelen der erwachsenen Verstorbenen und sie bleiben bis zum Mittag des 2. November. Man empfängt sie mit Gebeten und den beschriebenen Opfergaben. Für die Seelen verstorbener Kinder gibt es Kekse oder Bonbons.
Gegen Abend des zweiten Tages werden die Seelen der Verstorbenen dann wieder verabschiedet, damit sie an den Ort ihrer ewigen Ruhe zurückkehren können. Dabei werden die aufgebauten Gaben von der Familie, Freund*innen und Bekannten gemeinsam verzehrt und der Altar wird wieder abgebaut – bis zum nächsten Jahr. Denn dieses Ritual wird dreimal wiederholt nach dem Tod einer Person.
Wird Allerheiligen in Bolivien in irgendeiner Weise auch öffentlich begangen?
Ja, obwohl wir in einem laizistischen Staat leben, ist Allerheiligen ein öffentliches Fest bzw. sogar ein offizieller Feiertag, also arbeitsfrei. Denn es ist wichtig, sich in kollektiver Weise an die Verstorbenen zu erinnern. Dabei geht es um die Frage: Was kommt nach dem Tod? Alle Kulturen kennen Rituale, um den Tod zu bewältigen. Und viele davon dienen ja weniger den Verstorbenen als vielmehr den Lebenden.
Die sollen dazu befähigt werden, mit dem Verlust umzugehen und die Trauer zu überwinden. Dazu treffen sich die Familien auf dem Friedhof, am Grab der schon länger verstorbenen Angehörigen. Auch dort wird gemeinsam gegessen und getrunken. In Bolivien ist das Allerheiligen-Fest am 1. November also eng verbunden mit dem Totengedenken am 2. November. Beide Feste sind komplementär zu verstehen.
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