Potsdam (epd). Für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland ist der Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober eine tiefe Zäsur. Das zeigen erste Ergebnisse einer sozialwissenschaftlichen Studie. Die Terrororganisationen hätten Juden weltweit sehr gezielt adressiert, indem sie ihre Angriffe gefilmt und im Internet übertragen hätten, sagte die Potsdamer Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialforschung, Friederike Lorenz-Sinai, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Viele der Interviewten erzählten, dass sie sich sehr direkt als jüdische Person in Deutschland bedroht gefühlt hätten.
Viele der Befragten hätten eine unempathische Reaktion der Gesellschaft und ihres privaten Umfelds auf den Terrorangriff und die Angriffe der Hamas und der Hisbollah seit Oktober geschildert, sagte Lorenz-Sinai, die eine der Studienautorinnen ist. Zudem setze sich der Terror durch die Lage der israelischen Geiseln und der regelmäßig von der Hamas verbreiteten Aufnahmen ihrer Quälerei und Ermordung bis heute fort.
Die Studie entsteht derzeit als Zusammenarbeit der Fachhochschule Potsdam und des Berliner Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung. Sie erforscht, wie sich der 7. Oktober auf die jüdische und israelische Community in Deutschland auswirkt. Befragt wurde ein breites Spektrum von Menschen aus der jüdischen und israelischen Community - in Einzel- und Gruppeninterviews - bislang rund 100 Personen.
Ein Großteil der Interviewpartnerinnen und -partner beschreibe tiefe Verletzungen durch die Reaktionen ihres Umfelds. „Die Studie zeigt, dass bereits am 7. Oktober abends auf Geburtstagsfeiern, bei Dates oder auf Social Media, in sehr intimen Kontexten, die Interviewpartnerinnen und -partner mit Relativierungen, Bagatellisierungen oder auch mit Schuldzuweisungen konfrontiert wurden“, sagte Lorenz-Sinai. Einige der Befragten hätten Angehörige oder würden Menschen kennen, die ermordet oder von der Hamas als Geiseln genommen wurden. Daneben träten als zweite Erfahrung die Gleichgültigkeit des Umfelds, die Leugnungen und Umdeutungen der Ereignisse.
Diese Verleugnung und die ausbleibende Anerkennung, dass es um Kriegsverbrechen und um Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehe, sei ein großer Teil des Schmerzes, den Jüdinnen und Juden empfänden. Vielen komme es so vor, als lebten sie in einer Art Parallelwelt. „Denn andere sehen diesen Schmerz nicht“, sagte die Erziehungswissenschaftlerin.
Der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft falle es offenbar schwer, sich mit Juden und Jüdinnen zu solidarisieren. Es herrsche oftmals die Auffassung vor, Antisemitismus sei in Deutschland etwas Historisches, mit dem man selbst nichts zu tun habe. Studienteilnehmende mit Familiengeschichte in der Ukraine schilderten den starken Kontrast zu den Reaktionen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, als sie Solidarität und Mitgefühl erfuhren.
Dass die Mehrheitsgesellschaft den Terrorangriff nicht ausreichend anerkenne, wirke sich auch auf das Sicherheitsgefühl aus. Befragte beschrieben Diskriminierungen am Arbeitsplatz. „Zum Beispiel wurden Sicherheitsbedürfnisse übergangen“, sagte Lorenz-Sinai. Als die großen Protestwellen gegen den Krieg einsetzten und die Zahl antisemitischer Übergriffe anstieg, hätten Befragte unter anderem darum gebeten, israelische Namen auf der Internetseite oder in E-Mail-Adressen abzukürzen, was abgewehrt oder ignoriert worden sei.
Innerhalb der jüdischen Community gebe es situative Strategien, um die Sicherheit im Alltag zu erhöhen - etwa darauf zu achten, keine hebräischen Schriftzeichen an sich zu tragen. Außerdem fänden viele Jüdinnen und Juden Schutz in der eigenen Gemeinschaft und suchten verstärkt jüdische Räume auf.
Dies stehe auch im Kontrast dazu, wie Befragte öffentliche, überwiegend nichtjüdische Orte erleben, sagte Lorenz-Sinai. Sie erzählten etwa, dass sie auf der Straße oder im Kino von der Angst überwältigt werden, als jüdische Person erkannt zu werden. Familien stellten sich zudem die Frage, ob ihre Kinder wegen der teilweise offen antisemitischen, Israel dämonisierenden Proteste auf Unicampussen noch in Deutschland studieren können.