Jahresbericht deutsche Einheit: Nur geringes "Wir-Gefühl"

Jahresbericht deutsche Einheit: Nur geringes "Wir-Gefühl"
Im Osten Deutschlands zweifeln viele Menschen an gleichwertigen Lebensverhältnissen. Auch das gesellschaftliche "Wir-Gefühl" hat in letzter Zeit gelitten. Fakt ist: Der Osten kämpft mit Überalterung und Fachkräftemangel.

Berlin (epd). 35 Jahre nach dem Mauerfall empfindet laut einer Umfrage eine große Mehrheit der Menschen in Ost und West kein „Wir-Gefühl“. Lediglich etwa ein Drittel der Befragten hat Vertrauen in andere Menschen, wie aus dem „Deutschland-Monitor 2024“ des am Mittwoch in Berlin vom Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), vorgestellten Berichts zum Stand der deutschen Einheit weiter hervorgeht. Nur ein Viertel der Befragten glaube, dass sich die Mitmenschen gegenseitig unterstützen. Nicht einmal jede beziehungsweise jeder Achte bewerte demnach den gesellschaftlichen Zusammenhalt noch als positiv.

Ein gesamtgesellschaftliches „Wir-Gefühl“ werde zudem von Ostdeutschen im Schnitt seltener als von Westdeutschen bejaht. Auch bei Menschen mit mittlerer und niedriger Schulbildung, populistischen Neigungen, Parteinähe zu AfD und BSW und dem Empfinden sozialer Benachteiligung gebe es nur ein unterdurchschnittlich ausgeprägtes „Wir-Gefühl“.

Der Ostbeauftragte betonte, mit der Wiedervereinigung vor 34 Jahren habe sich ganz Deutschland verändert, auch Westdeutschland. „Im Innern wie auch in den Beziehungen nach außen musste sich Deutschland gewissermaßen neu erfinden“, erklärte Schneider: „Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nun in vollständiger Homogenität leben.“

So gibt es weiterhin Unterschiede zwischen Ost und West, etwa bei den Durchschnittseinkommen, der Wirtschaftskraft, den Vermögenswerten oder der Lebenserwartung. Auch gebe es weiterhin zu wenig ostdeutsche Führungskräfte in Wirtschaft, Medien, Justiz und Hochschulen. Es bleibe noch einiges zu tun, damit gleichwertige Lebensverhältnisse erreicht werden, sagte der aus Thüringen stammende Ostbeauftragte.

Der 176-seitige Bericht zum Stand der deutschen Einheit trägt so auch den Titel „Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen“. Große Sorge bereiten Schneider nach eigenen Worten die demografische Entwicklung und die Erfolge von Rechtspopulisten im Osten. In Ostdeutschland fehlen laut dem Bericht besonders viele Fachkräfte, gleichzeitig gehen mehr Menschen in Rente als in Westdeutschland. „Wir brauchen Zuwanderung und wir brauchen Binnenwanderung“, sagte der Ostbeauftragte.

Aber die jüngsten Wahlergebnisse in Sachsen, Thüringen und Brandenburg seien da ein „starker Dämpfer“. „Da werden sich viele Menschen überlegen, ob sie in den Osten gehen wollen“, sagte Schneider. Zwar seien AfD und andere Populisten nicht nur ein Ost-Problem, aber sie seien ein Problem für Ostdeutschland. Sein Ziel sei deshalb, dort die „stille Mitte der Gesellschaft zu stärken“.

Laut dem von den Universitäten Halle, Jena und Mannheim gemeinsam erstellten „Deutschland-Monitor 2024“ sprechen sich mehr als 80 Prozent für die freiheitlich-demokratischen Grundwerte aus, wie die Jenaer Politikwissenschaftlerin Marion Reiser sagte. Der Rückhalt für die Freiheitsrechte liege sogar bei mehr als 90 Prozent.

Zugleich sehen bundesweit ein Drittel, im Osten sogar 40 Prozent, die Presse- und Meinungsfreiheit nicht eingelöst. Darunter sind laut Reiser besonders viele AfD- und BSW-Anhänger. Befragt wurden für den „Deutschland-Monitor“ im Frühjahr knapp 4.000 Personen.