Dokumentarfilm: Die Geschichte der Kinder von Korntal

Wandmalerie am Kinderheim Korntal
Salzgeber Verleih
Eine Wandmalerei am Kinderheim Korntal, Schauplatz eines der größten Missbrauchsskandale der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Mißbrauchsskandal der Kirche
Dokumentarfilm: Die Geschichte der Kinder von Korntal
Die Kinderheime der pietistischen Brüdergemeinde in der Kleinstadt Korntal in Baden-Württemberg galten nach außen hin lange als Vorzeigeprojekte für eine Erziehung von "schwer Erziehbaren" aus "Problemfamilien". Erst als 2013 erste Betroffene an die Öffentlichkeit gingen, kam heraus, was ab den 1950er Jahren schreckliches dort geschah. Thomas Klatt von evangelisch.de berichtet über den Fall und den Film.

Es sind lange, ruhige Kameraeinstellungen. Die Atmosphäre in dem 90-Minuten-Dokumentarfilm ist düster, denn zu lachen gibt es nichts. Und wenn gelacht wird, etwa auf Kinderfesten in Aufnahmen aus den 1970er Jahren, so weiß man heute, dass das nur vorgeschoben und gelogen war.

Die Kinderheime der pietistischen Brüdergemeinde in der beschaulichen Kleinstadt Korntal in Baden-Württemberg. Nun haben sich sechs Kinder von damals vier Jahre lang von einer Kamera begleiten lassen. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie lassen sich nichts mehr verbieten. Sie wollen, dass alle erfahren, die es wissen wollen, was sie durchgemacht haben und immer noch durchmachen. Aber noch heute wollen viele es immer noch nicht wissen und wahrhaben.

"Nach Korntal gekommen bin ich mit einem halben Jahr. Natürlich waren viele von uns Bettnässer. Man durfte aber nachts nicht rausgehen auf Toilette. Was macht man? Entweder zwangsläufig ins Bett machen oder gucken, dass man ein Gefäß für den Urin hat oder gucken, dass man den Urin versteckt oder womöglich trinkt. Sonst kriegst Du ja wieder Prügel, wenn Du erwischt wirst", berichtet Angelika Bandle Jahrzehnte später.

Die Kinder waren in verschiedenen Gruppen untergebracht, die nach Vögeln benannt waren, die Lerchen-Gruppe, die Schwalben-Gruppe, die Rotkehlchen-Gruppe usw. 

In jeder Gruppe herrschte ein je eigenes Regiment und Reglement. Aber schrecklich war es wohl bei allen. So mussten viele ihr Taschengeld in die Sonntags-Kollekte stecken. Keiner durfte etwas für sich behalten. Andere wurden für den privaten Hausbau abgestellt, ohne jemals dafür einen Lohn erhalten zu haben. Andere betreuten die Pferde auf dem Hof, aber reiten durften nur die Kinder aus der Stadt, nicht die Kinder in den Heimgruppen. Und vor allem: Immer, immer gab es Prügel. Im Film werden die Erinnerungen von Rita nachgesprochen:

"Das ist Schwester Lotte. Manchmal war sie ja auch freundlich. Aber meistens war die Frau einfach überfordert und ist manchmal einfach durchgedreht. Die Schwester Lotte hatte ganz dicke Wurstfinger, kräftige Hände, richtige Pranken. Dann hat sie immer mit der flachen Hand so ins Gesicht geschlagen, dass die Wangen knallrot waren. Zum Prügeln hat sie gerne den Kleiderbügel benutzt, den sie vorher unter heißes Wasser getan hat. Einmal musste sich ein Junge demonstrativ über einen Stuhl legen und den hat sie vor uns allen so richtig vermöbelt. Und dann hat sie auch noch seinen Kopf genommen und gegen die Wand geknallt. Sie war ja auch noch Krankenschwester. Sie konnte die Kinder dann auch noch ein bisschen verarzten, ums zu verheimlichen."

Der Teddy zum Trösten, im Ofen verbrannt

Wer protestierte, wurde gemaßregelt. Detlev Zanders einziger Freund war sein Teddybär, dem er alles erzählen konnte. Genau der wurde dann vor den Augen aller im Ofen verbrannt. Und dann kam der Hausmeister und nahm sich einfach den Jungen und tat mit ihm in Fahrrad- und Ölkellern, wonach ihm gelüstete. Dann traute sich Detlev Zander schließlich doch noch und machte Meldung bei seiner Gruppenleiterin Tante Gerda: "Anstatt mir zu helfen, mich in den Arm zu nehmen und zu sagen: Ja, ich melde das, hat sie mich ganz massiv geschlagen, hat dann nur Watte genommen und hat mir das in den Popo gesteckt und hat gesagt: Wenn Du irgendwas erzählst, dann knallt’s."

Noch schlimmer gingen die Vergewaltigungen und der Missbrauch außerhalb der Kinderheime weiter. Viele Kinder wurden an so genannte Patenfamilien in die Stadt Korntal vermittelt.

Der Mann vergewaltigt, die Frau schaut zu

"Ich hätte gerne ein Kind in dem und dem Alter und so soll es ungefähr aussehen und die sind dann mitgenommen worden die Kinder mal am Wochenende Samstag auf Sonntag und mir ist das leider auch passiert, dass ich dann bei einem Korntaler Ehepaar gelandet bin. Da ging es hart zur Sache. Wie alt war ich? Sechs, sieben? Dass ich von dem Mann vergewaltigt worden bin und die Frau hat nebenan gesessen und hat zugeguckt. Es sei alles weiter nicht schlimm, ich soll mich nicht so anstellen. Es tut ja weh. Und das Kinderheim selbst hat sich gar nicht dafür interessiert. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass eine Erzieherin gefragt hätte: Wie geht es Dir denn in der Patenfamilie?", erinnert sich Angelika Bandle.

Heute sind die Kinder von Korntal erwachsen. Die, die es geschafft haben, die Hölle von damals zu überleben, die in ihren Köpfen und Herzen tagtäglich weitergeht. Viele haben sich in Therapie begeben. Andere hatten die Kraft nicht, die Traumata zu verarbeiten und suchten Erlösung im Suizid.

Fast 150 ehemalige Heimkinder, darunter auch Detlef Zander, haben bis heute ihr Schweigen gebrochen. Mehr als 80 Täter:innen konnten ermittelt werden.

Doch obwohl die Brüdergemeinde Korntal sich mittlerweile auch aufgrund des öffentlichen Drucks für die Aufarbeitung des geschehenen Unrechts geöffnet hat, haben die Verantwortlichen bis heute Mühe, sich zu einer direkten Schuld an den Selbstmorden zu bekennen. Der Kontrast zu den Betroffenen-Berichten könnte kaum größer sein, wenn der Pfarrer und geistliche Vorsteher in Korntal, Jochen Hägele, vor der Kamera sagt: "Es gibt ehemalige Heimkinder, die durch Selbstmord, Suizid aus dem Leben gegangen sind. Da bin ich jetzt als Seelsorger ein bisschen vorsichtig. Nicht einfach zu sagen: Dieser Selbstmord hat diese eine Ursache. Leben ist zu bunt. Aber ja, auch eine Missbrauchsgeschichte ist so eine Hypothek für ein Leben, dass sie Menschen in eine ausweglose Situation bringen können. Aber ich bin vorsichtig, wenn jemand sagt, da hat sich jemand das Leben genommen wegen seiner Geschichte in Korntal."

Nun müsse auch mal "gut" sein?

Die Brüdergemeinde Korntal ist freikirchlich organisiert und lebt vor allem von Spenden. Auch die Täter haben gespendet, manche von ihnen sogar sehr viel. Es fällt schwer, ihnen nun ihre Verdienste absprechen zu müssen. Vor der Kamera haben Korntaler keine Probleme zu sagen, dass sie doch ihr Geld nicht für heutige Entschädigungszahlungen spenden würden. Das sei doch nun wirklich alles schon lange her. Nun müsse auch mal gut sein.

Fast 150 ehemalige Heimkinder haben bis heute ihr Schweigen gebrochen, mehr als 80 Täter:innen konnten ermittelt werden. Die Brüdergemeinde hat den Opfern bis heute Beträge von meist 5000-8000 Euro ausgezahlt. Für viele von ihnen ist das mehr ein Hohn als ein Ausgleich für erlittenes Unrecht. Für die Betroffenen ist das bis heute ein Mißbrauch nach dem Mißbrauch. Zudem werden einige, die an die Öffentlichkeit gegangen sind, bedroht und beschimpft, anonym natürlich.

Vier Jahre Recherche zum Film

Von 2019-2023 hat die Kölner Filmemacherin Julia Charakter in Zusammenarbeit mit dem kleinen Fernsehspiel beim ZDF in Korntal recherchiert. Schon im Studium hat sie sich in ihrem Kurzfilm "unbarmherzig" mit den Abgründen der Heimerziehung beschäftigt. Für sie ist der Korntal-Film auch Teil einer Hilfe für die Betroffenen. "Ich glaube schon, dass die Medien mit der Aufmerksamkeit auf ein Thema viel bewegen können. Dass einige Betroffene doch sehr hoffnungslos waren, dass sie das Gefühl haben, dass es mehr Aufmerksamkeit hat durch die Filmtour: Ich werde gehört! In dem Film hatten sie die Gelegenheit, alles zu sagen, was sie sagen wollten", sagt Julia Charakter im Interview mit evangelisch.de.

Das Plakat zum Film "Die Kinder von Korntal"

Und weiter: "Das ist nicht James Bond oder irgendetwas, was die Leute in die Kinos lockt, aber es ist ein unheimlich wichtiges Thema, weil in den letzten Jahren so viele andere Missbrauchsfälle ans Licht gekommen sind. Wie geht man mit Schuld um? Wie geht man mit Tätern um? Wie geht man mit Betroffenen um? Es ist wichtig, dass wir darüber sprechen können, dass sich ein Bewusstsein entwickelt, wie man mit Betroffenen umgeht und wie man Missbrauch verhindern kann."

Immerhin wird der Film jetzt mit anschließender Diskussion auch in zwei evangelischen Hochschulen gezeigt. Auf der EKD-Webseite wird der Film allerdings bislang nicht beworben.

Bei aller Düsternis des Films lässt eine Stelle besonders aufhorchen, weil sie so überraschend wie scheinbar absurd, aber vielleicht auch hoffnungsvoll wirkt. Selbst die drakonischsten Strafen und schlimmsten Vergewaltigungen haben es nicht vermocht, Detlev Zander den Glauben auszutreiben, wie er im Film sagt:"Den Glauben wird mir weder die Evangelische Kirche in Deutschland noch die Brüdergemeinde wegnehmen. Mich hat bis heute irgendjemand geschützt. Wer immer das sein mag, ob Gott, ob Jesus, ich bin behütet worden."

Ab 26.09. läuft der Film "Die Kinder von Korntal" in den Kinos und ist nach der Kinoauswertung bei Amazon Prime abrufbar.