Kriminologin verstärkt Prävention der rheinischen Kirche

Portrait von der Leiterin der Stabstelle Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt, Katja Gillhausen
EKiR/Marcel Kuß
Sie halte es für unabdingbar, Kindern grundsätzlich zunächst Glauben zu schenken, wenn diese über "seltsame" Vorkommnisse berichten, sagt Katja Gillhausen, Leiterin der Stabstelle Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt der Evangelischen Kirche im Rheinland.
Missbrauch künftig verhindern
Kriminologin verstärkt Prävention der rheinischen Kirche
Katja Gillhausen ist seit dem 3. Juli 2024 neue Leiterin der Stabsstelle für Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt der Evangelischen Kirche im Rheinland. Im Gespräch mit evangelisch.de-Redakteurin Katja Eifler spricht die Polizeikommissarin und studierte Kriminologin über ihre Überraschung angesichts der hohen Fallzahlen in der Kirche, über den Vorteil ihres kriminalistischen Gespürs für das Amt sowie darüber, mit welchen Tipps Eltern ihre Kinder besser gegen Übergriffe wappnen können.

evangelisch.de: Frau Gillhausen, Sie sind jetzt die Leiterin der Stabsstelle Aufarbeitung und Prävention der Evangelischen Kirche im Rheinland. Wie waren die ersten Wochen?

Katja Gillhausen: Die ersten Wochen waren erwartungsgemäß sehr aufregend, allerdings auch hoch spannend und gut gefüllt mit Herausforderungen positiver Art. Wir befinden uns gerade noch im Aufbau der Stabsstelle und werden wohl zum 1. September die letzte ausgeschriebene Stelle besetzen können. 

Sie sind ausgebildete Polizeikommissarin sowie studierte Kriminologin und Polizeiwissenschaftlerin. Was hat sie daran gereizt, diesen Ausbildungsweg damals einzuschlagen?

Gillhausen: Ich hatte immer schon ein Faible für Recht und Gerechtigkeit, was man während der - noch naiven - Schulzeit gern im Zusammenhang sieht. Kriminelles Verhalten in all seinen Facetten beschäftigt mich seither und mündete folgerichtig in einem universitären Kriminologie-Studium, wo es mir mehr darum ging zu ergründen, welche Umstände solches Verhalten begünstigen oder verhindern können. 

Sie waren in Wuppertal und in Krefeld im Polizeipräsidium, beim Landeskriminalamt NRW und beim Innenministerium tätig. Warum nun der Wechsel zur Kirche?

Gillhausen: Der kirchliche Arbeitgeber schien mir grundsätzlich interessant, da ich hier die Möglichkeit sehe, ganz konkret entstandenem Leid entgegentreten zu können. Im Hinblick auf meine Studieninhalte kann ich hier sehr eindrücklich an den Umständen arbeiten, die auf institutioneller beziehungsweise kirchlicher Ebene zur Ermöglichung von kriminellem Verhalten geführt haben. Darüber hinaus bin ich selbst evangelisch und fühle mich der Institution Kirche verbunden.

Nebenbei waren Sie auch schon einmal vier Jahre als Presbyterin in Viersen-Krefeld ehrenamtlich engagiert, hat dies eine Rolle bei der Bewerbung auf diese Stelle gespielt?

Gillhausen: Sicherlich. Ich habe dort viele gute Erfahrungen gesammelt, höchst engagierte Menschen kennengelernt und die Zusammenarbeit in diesem menschlichen und wertschätzenden Umfeld sehr gemocht. Das hat mein Bild der Kirche positiv geprägt.

"Tatsächlich bin ich jedoch trotz meiner beruflichen Vorgeschichte zunächst sehr gutgläubig und vertrauensvoll in Bezug auf die Institution Kirche gewesen"

Sie haben selber zwei Kinder, die Kontakt zu kirchlichen Organisationen haben, war dies auch ein Grund, sich mit dem Themenkomplex "Sexualisierte Gewalt" in der Kirche zu beschäftigen?

Gillhausen: Meine ältere Tochter beginnt in der Tat gerade mit dem Konfirmandenunterricht und beide Kinder haben einen evangelischen Kindergarten besucht. Tatsächlich bin ich jedoch trotz meiner beruflichen Vorgeschichte zunächst sehr gutgläubig und vertrauensvoll in Bezug auf die Institution Kirche gewesen. Das Themenfeld ist erst mit Veröffentlichung der Ergebnisse der ForuM-Studie intensiver in meinen persönlichen Fokus gerückt. 

Waren sie überrascht wie umfangreich Missbrauch oder sexualisierte Gewalt in kirchlichen Einrichtungen möglich waren oder sind?

Gillhausen: Natürlich ist es erschreckend, da man sich gerade im Umfeld der Kirche besonders sicher und geborgen fühlen sollte. Das Ausmaß der Missbrauchstaten innerhalb der evangelischen Kirche ist auch deutlich höher, als ich es erwartet hätte. Als Kriminalbeamtin und Kriminologin erschreckt oder überrascht mich im Bereich jeglicher menschlicher Verfehlungen allerdings so schnell nichts mehr.

Unterscheiden sich die Taten im kirchlichen Umfeld zu denen aus anderen Lebenswelten?

Gillhausen: Wir erleben häufig, dass die Betroffenen, und auch deren Eltern, im kirchlichen Umfeld besonders arglos sind, da sie zu Recht davon ausgehen, sich in einem besonders geschützten Raum zu bewegen. Die Täter nutzen dies und die Überlegenheit und Macht, die ihnen qua Amt übertragen ist, aus und schädigen die Betroffenen dadurch häufig auch psychisch massiv. Manchmal kommen die Betroffenen erst Jahrzehnte später zu der schrecklichen Erkenntnis, Opfer von Missbrauch geworden zu sein. 

Früher hieß es "Pfarrer und Lehrer haben immer Recht"

Gerade früher wurde den Betroffenen oft aus Respekt vor den Pfarrpersonen und ihrem Ansehen nicht geglaubt. Diese besondere Gutgläubigkeit gegenüber Kirchenbediensteten hat den Missbrauch erleichtert. In der Generation meiner Eltern hieß es: "Pfarrer und Lehrer haben immer Recht". Das erschwert eine Offenlegung der Taten zusätzlich. Das gilt sicherlich auch für den Umgang unter Kollegen, die sich gegenseitig nicht "anschwärzen" wollten und ein harmonisches Miteinander vorangestellt haben. Darüber hinaus ist der Zugang zu möglichen Betroffenen gerade im Bereich der Jugendarbeit häufig leicht und zu wenig kontrolliert gewesen.

Hatten Sie in ihrem Polizeialltag schon einmal selbst mit so einem Fall zu tun? Und wenn ja, wie sind sie damit persönlich umgegangen?

Gillhausen: Sexualisierte Gewalt habe ich lediglich in meiner Zeit bei der Kriminalwache selbst miterlebt, wo die Ad-hoc-Maßnahmen zugunsten der Opfer getroffen und Spuren- und Beweissicherung für das Strafverfahren betrieben werden. Bei der Kriminalpolizei habe ich den Bereich häuslicher Gewalt und andere Gewaltdelikte, vor allem jedoch politisch motivierte Kriminalität bearbeitet. 

Aufarbeitung und Prävention sind die Schwerpunkte der Arbeit. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Bezug auf den vielfältigen Missbrauch im kirchlichen Umfeld? Und natürlich speziell im Bereich der rheinischen Kirche?

Gillhausen: Bezogen auf die aktuelle Situation kann ich sagen, dass die rheinische Kirche umfangreiche Vorkehrungen getroffen hat, damit die Ausübung sexualisierter Gewalt zukünftig deutlich erschwert wird - etwa die Verpflichtung zur Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses, Schulung und Sensibilisierung aller Mitarbeiter:innen. Hierbei setzen wir insbesondere die Maßnahmen des Kirchengesetzes zum Schutz vor sexualisierter Gewalt um. Unter anderem werden unabhängige Staatsanwälte mit der Durchsicht und rechtlichen Einordnung von Altfällen beauftragt.

"Betroffene bestimmen zukünftige Aufarbeitung"

Wir beteiligen uns an diversen Studien zu dem Themenkomplex und analysieren fortlaufend die dabei herausgefilterten Erkenntnisse. Insbesondere spielen jedoch die Betroffenen heute die zentrale Rolle im Bereich unserer Aufarbeitung. Im Rahmen einer regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) bestimmen diese maßgeblich die zukünftigen Aufarbeitungsprozesse mit.

Beim Thema Aufarbeitung, hilft ihnen da ihr kriminologisch ausgebildeter Verstand? Wie gehen Sie dabei vor?

Gillhausen: Das Kriminologie-Studium hilft mir bei der Einordnung und Filterung der Entstehungsbedingungen sexualisierter Gewalt und in diesem Zusammenhang auch zu dem Beitrag unserer institutionellen Besonderheiten, welche hier sexualisierte Gewalt begünstigen oder begünstigt haben. Darüber hinaus kann ich jedoch auch Umstände benennen, die ebendies zukünftig verhindern können.

Würde ein anonymes digitales Hinweisgebersystem, wie es die Kirche von Westfalen nutzt, aus ihrer Perspektive auch im Rheinland hilfreich sein bei der Aufklärung?

Gillhausen: Wir haben bislang bei der Suche nach Betroffenen auf andere Formen gesetzt. Zum Beispiel hat die Evangelische Kirche im Rheinland als Aufruf an Betroffene und Zeuginnen und Zeugen Flyer und Karten verteilt, auf denen nach dem Motto "Werden Sie los, was Sie nicht loslässt!" um die Mitteilung von Erkenntnissen gebeten wird. Es wird hierbei aufgerufen, von den eigenen Erfahrungen zu berichten und sich über Hilfsangebote zu informieren. Darüber hinaus wird ergänzend und in allen Schutzkonzepten an unsere vertrauliche Ansprechstelle sowie die zentrale Anlaufstelle help verwiesen. 

Offen für moderne Lösungen

Im Rahmen solcher anonymen Hinweismöglichkeiten wie im Beispiel des externen Beratungsunternehmens bleiben mir noch Zweifel, was etwa mit Meldungen passiert, bei denen die Betroffenen der Weitergabe nicht ausdrücklich zustimmen. Das Deloitte-Team bietet offenbar auch einen direkten Austausch für Betroffene an. Sind die Ansprechpartner entsprechend sensibel und fachgerecht geschult? Wenn das Deloitte-Team die Mitteilungen eventuell nur aufnehmen und weitergeben würde, ohne fachlich zu beraten, würden wir unsere vertrauliche Beratung, die ebenfalls anonym genutzt werden kann, bevorzugen. Wir sperren uns grundsätzlich nicht gegen neue und moderne Lösungen. Im Gegenteil. Wenn sich im Rahmen einer Best-Practice-Auswertung zeigt, dass ein bestimmtes System hervorragend funktioniert, ziehen wir eine Nutzung ggf. als zusätzliche Möglichkeit selbstverständlich gern in Erwägung. Auf Kosten der Betroffenen möchten wir jedoch kein Risiko eingehen und setzen daher stets auf den persönlichen Kontakt und auf gut geschulte Ansprechkräfte.

Wie will ihre Stabsstelle im Bereich Aufklärung und vor allem in der Prävention agieren? Die Nordkirche bietet beispielsweise eine Schulung als E-Learning zur Sensibilisierung an. 

Gillhausen: Um erste Eindrücke zu gewinnen, kann ein solches Tool sehr hilfreich sein. Mir gefällt in diesem Fall auch die Veranschaulichung durch Quizfragen und -antworten. Da solche Situationen in der Realität jedoch oft sehr komplex sind und stark geprägt von persönlichen Eindrücken, ist eine verallgemeinerte Beantwortung immer schwierig. Gerade im Rahmen von persönlichen Schulungen in Präsenz kann ein innerer Verstehensprozess mit Sensibilisierungsübungen, Wissensvermittlung und Austausch in Diskussionen deutlich gefördert oder verfestigt werden. Wir setzen auf die Arbeit mit ausgebildeten Multiplikatoren, welche in den Kirchenkreisen vor Ort die Schulungen durchführen und für Fragen zu diesem Themenkomplex ansprechbar sind. 

Für Mütter und Väter, was sind aus ihrer Sicht drei Tipps, mit denen ich meine Kinder vor solchen Taten schützen kann?

Gillhausen: In erster Linie hilft es schon viel, die Kinder, besonders auch jüngere, sprachfähig zu machen. Sie sollten sich mit Begrifflichkeiten der Geschlechtsteile auskennen, um ihnen widerfahrende Handlungen im Fall eines Missbrauchs auch benennen zu können. Zudem halte ich es für unabdingbar, Kindern grundsätzlich zunächst Glauben zu schenken, wenn diese über "seltsame" Vorkommnisse berichten. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder nur wenige Anläufe unternehmen, sich zu öffnen, und dass sie sich, wenn ihnen nicht geglaubt wird, schnell verschließen. Unersetzbar positiv wirkt sich jedoch generell ein gutes Selbstbewusstsein der Kinder aus. Sind Kinder stark, können sie sich zum einen selbstbewusst gegenüber möglichen Tätern positionieren und sind zum anderen weniger anfällig für Täterstrategien, die darauf abzielen, den Kindern zunächst eine Anerkennung zukommen zu lassen, die ihnen sonst fehlt.