München (epd). Mehr als 40 Jahre lang hat Sophie Ruhlig nicht darüber gesprochen, was ihr in den späten 1970erJahren angetan wurde. Sie dachte: „Ich bin ein Einzelschicksal.“ Dass das mitnichten so ist, hat eine Untersuchung zu sexualisierter Gewalt beim Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) ergeben, die am Donnerstag in München vorgestellt wurde. Alles in allem seien 74 Beschuldigte und 149 Betroffene ermittelt worden. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, sprach von einer Vorbildfunktion der Studie.
2016 hatte sich der interkonfessionelle Pfadfinderverband dazu entschlossen, seine eigene Geschichte im Hinblick auf sexualisierte Gewalt von externen Expertinnen und Experten untersuchen zu lassen. Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München und das „Dissens - Institut für Bildung und Forschung“ in Berlin haben dafür 56 qualitative Interviews mit 60 Personen geführt - darunter waren 26 Betroffene und 22 Zeitzeugen sowie Experten. Außerdem wurde Aktenmaterial aus verschiedenen Archiven des Verbands gesichtet. Laut BdP ist die Studie eine der ersten, die sich auf einen Jugendverband bezieht.
Seit der Gründung des BdP 1976 bis zum Jahr 2006 wurden demnach 36 Beschuldigte und 103 Betroffene identifiziert. Die Taten fanden vor allem in den 1980er und 1990erJahren statt. Beziehe man auch Taten mit ein, die nicht dem Verband und nicht dem exakten Untersuchungszeitraum zugeordnet werden konnten, erhöhe sich die Zahl der Beschuldigten und Betroffenen weiter, hieß es. Zudem sei ein extrem großes Dunkelfeld zu erwarten.
Betroffen von der sexualisierten Gewalt waren den Forschern zufolge Jungen und Mädchen. Bei den fast immer männlichen Tätern hätten sich zwei „Prototypen“ herauskristallisiert: zum einen der ältere, erwachsene Pfadfinder, zum anderen der Jugendliche oder junge Erwachsene, der seine Stellung als Leitungsfigur in der Gruppe nutzt, um Jüngere sexuell auszubeuten. Immer wieder seien solche Taten auch aufgedeckt worden, jedoch sei „nicht nachhaltig dagegen vorgegangen worden“, sagte IPP-Forscher Peter Caspari.
Als strukturelle Risikofaktoren haben die Forscher beispielsweise mangelnde Kontrolle und Anleitung junger Führungspersonen, Machtasymmetrien, starke Loyalität der Heranwachsenden zu ihrer Pfadfindergruppe und die fehlende Thematisierung von Sexualität und sexualisierter Gewalt identifiziert. Der Umgang beim BdP mit Betroffenen sei „von Ignoranz geprägt“ gewesen, sagte Caspari: „Die Interventionen waren täterorientiert.“ Der Verband habe sich beim Umgang mit dem Thema über Jahrzehnte massiv selbst überschätzt.
Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus sagte, die Studie zeige, dass Machtgefälle, Rangordnungen und falsch verstandene Loyalitäten in Jugendverbänden „insbesondere auch von sehr jungen Tätern ausgenutzt wurden“. Es sei daher wichtig, dass auch Jugendverbände Schutzkonzepte hätten, die allen Orientierung im Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt geben. Sie wünsche sich, dass auch andere Jugendverbände die BdP-Studie zum Anlass nehmen, „in ihren Reihen aufzuarbeiten“, sagte Claus.
Betroffenengerechtigkeit stehe für den BdP-Bundesvorstand an erster Stelle, sagte der Bundesschatzmeister der Organisation Dustin Schmidt: „Wir haben Fehler gemacht, es wurde viel versäumt.“ Man wolle Betroffene unterstützen, „auch in finanzieller Hinsicht“. Der BdP wurde 1976 gegründet und erreicht heute nach eigenen Angaben 30.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in ganz Deutschland.