Berlin (epd). Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, haben bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Gewaltexzesse der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung aktuelle antisemitische Anfeindungen verurteilt. Jede Form von Antisemitismus vergifte die Gesellschaft, sagte Scholz am Donnerstag in der Synagoge in Berlin, auf die Mitte Oktober ein Brandanschlag verübt worden war. „Wir dulden ihn nicht“, ergänzte er und versprach der jüdischen Gemeinschaft den Schutz des Staates. Schuster warnte vor neuer Angst und Verunsicherung bei Jüdinnen und Juden in Deutschland. Er erkenne zuweilen dieses Land nicht wieder, sagte er.
Der Zentralratspräsident zog eine Linie von den Gewaltakten der Nationalsozialisten im November 1938 zu heutigen Angriffen, die seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober deutlich zugenommen haben. Wer verstehen wolle, was Jüdinnen und Juden in diesen Tagen fühlen, der müsse sich der historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken bewusst sein, sagte er. „Die Jagd auf Juden, dort wo sie zu Hause sind, brennt sich tief ein in das kollektive Bewusstsein von Jüdinnen und Juden“, sagte er.
Zugleich machte Schuster in seiner Ansprache deutlich, was heute „der wohl größte Unterschied zu 1938“ sei. „Wurde die Gewalt damals von den Nationalsozialisten geschürt, schützt heute der Staat die jüdische Gemeinschaft“, sagte er bei der Gedenkveranstaltung, die unter hohen Sicherheitsvorkehrungen stattfand.
Die Straßen rund um das Gebäude, in deren Hinterhof sich die Synagoge befindet, waren abgesperrt. Hohe Repräsentanten des Staates kamen zu der Gedenkfeier, unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, zahlreiche Mitglieder der Bundesregierung, die Präsidentinnen von Bundestag und Bundesrat, Bärbel Bas und Manuela Schwesig (beide SPD), viele Parteichefs und -chefinnen sowie Vertreter von Kirchen und gesellschaftlichen Gruppen.
Scholz sicherte der jüdischen Gemeinschaft in seiner Ansprache den Schutz des Staates zu. Das Versprechen „Nie wieder“, auf dem das demokratische Deutschland gründe, „müssen wir gerade jetzt einlösen“, sagte der Kanzler. Das bedeute zuallererst den physischen Schutz von jüdischen Einrichtungen und Gemeinden.
Gleichzeitig nannte er es „unerträglich“, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland hinter immer größeren Schutzschilden leben müssten. Daher gelte auch, dass Polizei und Justiz geltendes Recht konsequent durchsetzen müssten, sagte Scholz. Der Kanzler unterstrich zudem die Bedeutung der Erinnerung an „das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen der Schoah“. Heutige Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden empöre und beschäme ihn zutiefst, sagte Scholz.
Bei den Novemberpogromen vor 85 Jahren gingen die Nationalsozialisten mit offener Gewalt gegen die jüdische Minderheit vor. Höhepunkt war die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Es brannten Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt und getötet. Drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen und nach zahlreichen rechtlichen Diskriminierungen erhielt die Verfolgung der Juden mit den Ausschreitungen einen neuen Charakter.