Forscherin: EU-Renaturierungsgesetz unerlässlich für Artenschutz

Forscherin: EU-Renaturierungsgesetz unerlässlich für Artenschutz
08.07.2023
epd
epd-Gespräch: Susanne Rochholz

Frankfurt a.M. (epd). Das EU-Parlament will am Mittwoch über das Renaturierungsgesetz abstimmen. Die Frankfurter Biodiversitätsforscherin Katrin Böhning-Gaese, Mitglied im Sachverständigenrat für Nachhaltige Entwicklung, hält es für unerlässlich für den Artenschutz.

epd: Auf der UN-Artenschutzkonferenz von Montreal im Dezember vergangenen Jahres hat sich die Weltgemeinschaft, auch Deutschland, zum Ziel gesetzt, bis 2030 insgesamt 30 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz zu stellen. Welche Gebiete kommen in Deutschland für dieses 30x30-Ziel von Montreal infrage und welche davon haben schon einen Schutzstatus?

Böhning-Gaese: Wir haben in Deutschland ein breites Spektrum von unterschiedlichen Schutzgebieten. Wir haben Wildnisgebiete, das sind 0,6 Prozent, dazu Naturschutzgebiete, Natura2000-Flächen, die nach europäischen Rahmen-Richtlinien unter Schutz stehen, Biosphärenreservate, Landschaftsschutzgebiete, Nationalparks usw.. Das überlappt sich auch noch teilweise, sodass nicht ganz bekannt ist, wieviel Flächen in Deutschland schon in irgendeiner Form unter Schutz stehen. Ich habe eine Schätzung von 25 Prozent gehört. Man ist offenbar relativ nah dran an diesen 30 Prozent. Die Frage ist damit weniger die Fläche, sondern die Frage ist: Wie gut sind die Flächen geschützt?

epd: Haben Sie eine Antwort auf diese Frage?

Böhning-Gaese: Es gibt Indizien, dass der Schutz überhaupt nicht gut ist. Ich kenne mehrere Arbeiten über den Rückgang der Biodiversität in Schutzgebieten. Vor allem die mindestens in Fachkreisen berühmte Krefelder Studie hat über 27 Jahre einen Rückgang der Insekten um etwa Dreiviertel festgestellt - das waren Flächen in Schutzgebieten! Es gibt auch andere Schutzgebiete, die längerfristig untersucht wurden, etwa Tagfalter in der Gegend von Regensburg mit durchaus dramatischen Rückgängen. Und es gibt Untersuchungen über die Meeresschutzgebiete in Deutschland in der sogenannten ausschließlichen Wirtschaftszone, für die nicht die Länder zuständig sind, sondern der Bund. Deshalb hat sich das Bundesamt für Naturschutz das mal genauer angeschaut und festgestellt, dass es in den Schutzgebieten nicht gut aussieht mit dem Schutz der Biodiversität. Wenn ich mir die Rahmenbedingungen anschaue, wundert es mich auch nicht unbedingt.

epd: Warum?

Böhning-Gaese: Wenn ich mich für den Schutz eines Gebietes in Deutschland aussprechen würde, weil es wirklich internationale Bedeutung hat, dann wäre es das Wattenmeer. In Deutschland sind etwa 70 Prozent der Küstengewässer geschützt. Aber es ist selbst in der Kernzone der Nationalparks erlaubt, Fischerei zu betreiben, in fast allen Bereichen. Das heißt, da dürfen die Krabbenkutter mit ihren Grundschleppnetzen durchfahren, die sich potenziell verheerend auf die Tierbestände unter Wasser auswirken. Da sieht man, dass wirklich Nutzungsinteressen gegen Schutzinteressen stehen und dass die Nutzungsinteressen sich im Wesentlichen durchgesetzt haben in den vergangenen Jahrzehnten. Bei den Schutzgebieten an Land weiß ich, dass in FFH-Gebieten im Wald im Spessart uralte Buchen und Eichen gefällt werden, alles ganz legal. Und in der Kulturlandschaft gibt es im Schutzgebiet ordnungsgemäße Landwirtschaft mit Düngen und Pflanzenschutzmittel-Einsatz. Da gehen wir unglaubliche Kompromisse ein, was die Nutzungsrechte angeht, zum Teil, weil es in Privateigentum ist und der Staat da nicht gern reinregieren möchte. Da ist auf jeden Fall noch sehr viel Luft nach oben!

epd: Aber das Wattenmeer ist nicht in Privateigentum. Was wäre aus Sicht des Artenschutzes und der Biodiversität dort geboten?

Böhning-Gaese: Es ist richtig, das Wattenmeer ist Weltnaturerbe der Menschheit und Nationalpark, es hat fast alle Schutzlabels, die es gibt. Eigentlich hat sich Deutschland in Montreal verpflichtet, 30 Prozent der Meeresflächen effektiv zu schützen. Und wenn wir jetzt auf die europäische Naturschutz-Strategie schauen, der sich Deutschland auch verpflichtet hat, steht drin, dass 30 Prozent der geschützten Flächen streng geschützt werden müssen - im Englischen ist das der Begriff „strict“. Man kann das durchaus so interpretieren, dass das Wildnisgebiete sein sollten in dem Sinne, dass dort nur geringe Nutzung erlaubt ist. Das bedeutet, dass wir in Deutschland auf zehn Prozent der Flächen Wildnis haben sollten. Derzeit sind wir bei 0,6 Prozent. Wir brauchen viel stärkere Nutzungseinschränkungen in zahlreichen Schutzgebieten! Für das Wattenmeer heißt das, dass zumindest in der Kernzone keine Fischerei mehr erlaubt sein sollte. Was jedoch von zentraler Bedeutung ist: Solche Nutzungsänderungen müssen zusammen mit den Menschen vor Ort erarbeitet werden; da müssen alle gemeinsam am Tisch sitzen. Im Zweifelsfall muss es Ausgleichszahlungen für naturfreundliche Formen der Bewirtschaftung geben.

epd: Sehen Sie bei der Bundesregierung den nötigen Veränderungswillen, unter Umständen auch bei Gesetzesänderungen?

Böhning-Gaese: Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) hat vor drei Wochen eine nationale Biodiversitäts-Strategie vorgelegt. Da musste sie natürlich das Ziel zehn Prozent strenger Schutz reinschreiben. Aber das Wildnisziel in der Fassung, die sie jetzt zur Kommentierung herumgeschickt hat, war deutlich niedriger, da stand ein Ziel von zwei Prozent drin. Das muss deutlich ambitionierter sein!

epd: Stichwort Politik: Werfen wir einen Blick auf das Renaturierungsgesetz der Europäischen Union, über das das EU-Parlament voraussichtlich nächste Woche entscheiden wird. Wenn es so kommen sollte, wie es sich abzeichnet, was erwarten oder befürchten Sie dann?

Böhning-Gaese: Das ist eine ganz zentrale Komponente des „European Green Deal“, dem ambitionierten Klima- und Naturschutzplan der EU, und es ist eigentlich das wichtigste Gesetz zum Naturschutz, das wir seit dem Einrichten der Natura2000-Gebiete in Europa haben. Es hätte, da es eine Verordnung ist, auch durchaus juristische Zähne. Es wäre unglaublich wichtig für die Wiederherstellung der Natur. Es kommt jetzt ins Parlament und muss diese Hürde nehmen. Aber was damit gerade in Brüssel passiert, das kann ich als Wissenschaftlerin nur mit Entsetzen verfolgen. Der Umweltausschuss hat es wegen einer Pattsituation - gleich viele Stimmen für und gegen das Gesetz - formal abgelehnt. Der Umweltrat, der aus den Umweltministern der EU-Mitgliedsländer besteht, hat sich interessanterweise mit 20 zu 5 bei zwei Enthaltungen für das Gesetz ausgesprochen. Es scheinen da sehr kleine Lobbyverbände sehr starke Politik zu machen. Das sind die Christdemokraten in Allianz mit rechten Parteien sowie große Landnutzer - zum Beispiel einzelne Landwirtschaftsverbände. Für mich ist aus der Entfernung die politische Situation unklar und ich kann nur hoffen, dass dieses Gesetz durch das Europäische Parlament kommt. Ohne das Gesetz sehe ich schwarz, wie wir das Abkommen von Montreal einhalten sollen. Selbst eine Allianz aus über 60 Unternehmen, darunter Nestlé, Unilever und IKEA, und manche landwirtschaftlichen Verbände haben sich für das Gesetz ausgesprochen.