Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder weiter auf hohem Niveau

Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder weiter auf hohem Niveau
Mehr als 17.000 Mädchen und Jungen wurden 2022 den Behörden als Opfer sexueller Gewalt gemeldet. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich höher. Verantwortliche fordern eine Dunkelfeldforschung und mehr Spielraum für Behörden bei Ermittlungen.

Berlin (epd). Die Zahl von Fällen sexueller Gewalt gegen Minderjährige bewegt sich laut Bundeskriminalamt (BKA) weiter auf einem hohen Niveau. 2022 wurden 15.520 Fälle registriert, wie aus einer am Dienstag in Berlin vorgestellten Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht. Das waren fast genauso viele wie im Jahr zuvor. Auch die Zahl bekannt gewordener Opfer blieb ähnlich hoch. 17.437 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren wurden den Behörden als Opfer von Missbrauch gemeldet (2021: 17.704), 2.305 von ihnen waren jünger als sechs Jahre.

„In Deutschland werden pro Tag 48 Kinder Opfer sexueller Gewalt“, sagte BKA-Präsident Holger Münch bei der Präsentation der Zahlen. Dies zeige das weiter hohe Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder. Einen Anstieg um rund zehn Prozent gab es nach seinen Angaben bei gemeldeten Fällen von Missbrauchsdarstellungen an Kindern und Jugendpornografie. Fast 49.000 Fälle wurden demnach 2022 registriert. Das seien zwölfmal so viele Fälle wie 2018, ergänzte Münch. Grund sei vor allem die Verbreitung entsprechender Inhalte über soziale Medien.

Seit einigen Jahren gelingt es der Polizei mit Hilfe des US-amerikanischen National Center of Missing and Exploited Children (NCMEC), mehr Licht in das vermutlich große Dunkelfeld von Kindesmissbrauch zu bringen. Das Dunkelfeld sei aber weiter nur unzureichend erforscht, erklärte Münch und erneuerte gemeinsam mit der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus die Forderung nach mehr Forschung. Wie groß das Ausmaß sexueller Gewalt tatsächlich sei, könne bis heute nicht gesagt werden, sagte Claus.

Münch zufolge wurden sowohl beim BKA als auch bei den Sicherheitsbehörden der Länder Kapazitäten erhöht, um Fälle sexueller Gewalt zu bearbeiten. Dennoch stoße man an Grenzen. Das gilt vor allem für die Bearbeitung von Fällen der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen mit jugendlichen Tätern. Ihre Zahl hat sich drastisch erhöht - auf rund 17.500 im Jahr 2022. Die meisten Minderjährigen handelten nicht vorsätzlich, sondern aus „digitaler Naivität“ heraus, indem sie vermeintlich „coole“ Bilder teilten, erklärte Claus.

Seit der Einstufung dieser Taten als Verbrechen im Jahr 2021 können die Behörden Ermittlungen in solchen Fällen nicht einstellen. Das gilt auch für Fälle, in denen besorgte Eltern Bilder weiterleiten, um Hinweise zu geben. Längst gibt es Forderungen und auch in der Ampel-Koalition den Wunsch, diese Verschärfung beim Strafrechtsparagrafen 184b wieder zurückzunehmen, um die Behörden zu entlasten. Eine andere Einstufung würde der Polizei ein differenzierteres Vorgehen ermöglichen, sagte Münch. Auch die Missbrauchsbeauftragte Claus plädierte für eine rechtliche Anpassung. Eine Korrektur werde benötigt, um bestimmte Fälle einstellen, dafür aber tatsächliche Straftaten konsequent verfolgen und ahnden zu können, sagte sie.

Mit Blick auf die Verfolgung von Fällen sexueller Gewalt erneuerte Münch seine Forderung einer Speicherung von IP-Adressen, die nach Gerichtsurteilen ausgesetzt, unter bestimmten Voraussetzungen vom Europäischen Gerichtshof aber für zulässig erklärt wurde. Die IP-Adresse sei oft der einzige Ermittlungsansatz, sagte der BKA-Chef. Nach seinen Angaben stufte das BKA 2022 90.000 der von NECMEC übermittelten Daten als strafrechtlich relevant ein. Rund 20.000 Fälle hätten aber nicht weiterverfolgt werden können, weil IP-Adressen nicht mehr gespeichert oder identifizierbar gewesen seien.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unterstützte diese Forderung erneut. „Wir benötigen die Speicherung von IP-Adressen, um diese Form schwerer und schwerster Kriminalität wirksam bekämpfen zu können“, erklärte sie am Dienstag. Sie werde sich weiter sehr stark dafür einsetzen, „unseren Ermittlungsbehörden die notwendigen Instrumente an die Hand zu geben“. Die FDP ist bislang gegen die Speicherung der Daten.