Brüssel, Berlin (epd). Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ warnt vor einem drohenden Medikamentenmangel, sollte das neue Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien wie geplant umgesetzt werden. „Die von der EU angestrebten Bestimmungen wären ein großes Problem für die Versorgung unserer Patienten weltweit“, sagte die Expertin für den Zugang zu Arzneimitteln, Melissa Scharwey, dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. „Ärzte ohne Grenzen“ sei ebenso wie der globale Markt abhängig von in Indien produzierten Generika, sagte sie nach dem Ende der vierten Verhandlungsrunde zu dem Abkommen.
Generika sind günstigere Ersatzmedikamente, die dieselbe Wirksamkeit wie das Original haben und erst nach Ablauf des Patentschutzes produziert werden können. Scharwey kritisierte, die EU versuche bei den Verhandlungen, die Monopolstellung der Pharmakonzerne weiter zu stärken und lasse Gesundheitsbedürfnisse außer Acht. Dafür dringe sie auf Patent-Standards für Indien, die weit über die Regelungen der Welthandelsorganisation hinausgehen. „Ärzte ohne Grenzen“ wertet das als Versuch, Indien daran zu hindern, Medikamente zu produzieren, „die für uns, aber auch für Indien selbst und für viele ärmere Länder und deren Gesundheitssysteme notwendig sind“.
Die Organisation forderte die EU auf, in früheren Verhandlungen getroffene Zusagen beizubehalten. Die Bundesregierung sei ebenfalls in der Verantwortung, Einfluss auf die EU-Position zu nehmen. „Aber auch Indien muss die Bestimmungen konsequent ablehnen und dafür sorgen, dass die indische Generika-Branche weiterhin geschützt wird“, sagte die Expertin.
90 Prozent der von „Ärzte ohne Grenzen“ genutzten HIV-Generika kommen aus Indien, ebenso wie mehr als die Hälfte der Hepatitis-C-Medikamente, rund 30 Prozent aller Impfstoffe und ein Drittel der genutzten Tuberkulose-Arzneien. „Wenn diese Medikamente wegfallen, würde das unsere Arbeit fatal einschränken“, sagte Scharwey.
Der Patentschutz entscheidender Tuberkulose-Medikamente laufe dieses Jahr aus, sagte die Expertin. Die indischen Generika-Hersteller könnten also einen „unglaublichen Fortschritt für die weltweite Versorgung“ erzielen. Doch dies sei durch die EU-Position in Gefahr. Nach UN-Angaben starben 2021 über 1,6 Millionen Menschen an Tuberkulose, obwohl die Infektionskrankheit behandelbar ist.
Leidtragende des möglichen Freihandelsabkommens wären Scharwey zufolge vor allem ärmere Staaten. „Im Fall von HIV wären das beispielsweise Länder im südlichen Afrika wie Simbabwe und Botswana, bei Tuberkulose wären besonders Länder wie Indien selbst, Indonesien und Pakistan betroffen.“ Aber auch in Europa seien immer weniger bezahlbare Medikamente verfügbar und viele Patienten abhängig von indischen Generika. „Die Priorität der EU und der Bundesregierung ist aber offensichtlich, die Industrieinteressen von milliardenschweren Unternehmen zu schützen.“