Hamburg (epd). In seinem Projekt „Quellen der Weißen Rose“ trägt der Hamburger Theologe Martin Kalusche seit Oktober 2022 Originalquellen zu der Widerstandsgruppe um Hans Scholl zusammen und dokumentiert sie online. Schon jetzt habe er dabei einige Mythen aus 80 Jahren Erinnerungsarbeit widerlegen können, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). So sei die Geschichte von der letzten gemeinsamen Zigarette von Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst kurz vor ihrer Hinrichtung „eine Legende“. Weder ließen die minutiösen Hinrichtungsprotokolle dafür Spielraum, noch gebe es ein Motiv für die verbotene Zusammenkunft: „Warum sollten Bedienstete der NS-Justiz das für drei zum Tode verurteilte Hochverräter riskieren?“
Die Geschwister Scholl und Christoph Propst waren als Mitglieder der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ am 22. Februar 1943 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Zwischen Urteilsbekanntgabe und Enthauptung habe gerade mal eine Stunde gelegen, „und die war gefüllt mit Abschiedsbriefen und Seelsorge bis unmittelbar vor dem letzten Gang“, sagte Kalusche.
Schon 1946 wurde an die Ermordeten erinnert; später sei Sophie Scholl durch mehrere Biografien und Filme ins Zentrum des Interesses gerückt. Im Laufe der Jahre seien aber Original-Quellen nicht mehr genügend berücksichtigt worden, kritisiert Kalusche, der 1997 an der Universität Heidelberg über NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderungen promoviert hat. Deshalb trage er Protokolle, Briefe, Fotos, Berichte von Zeitzeugen und weitere Dokumente aus Archiven, Bibliotheken und Nachlässen zusammen - für jeden Tag zwischen Januar und Oktober 1943. So entstehe ein chronologischer Überblick über die Aktivitäten der „Weißen Rose“. „Mir geht es um Emanzipation“, betont der 62-Jährige. „Ich möchte, dass jede und jeder im Internet nachprüfen kann, was in Literatur und Film berichtet wird.“
Bislang sind in den „Quellen der Weißen Rose“ auf etwa 700 Seiten sieben Tage rund um den 22. Februar 1943 dokumentiert. Insgesamt hat Martin Kalusche zehn Jahre für das private Mammutprojekt veranschlagt. Unterstützung bekommt er unter anderen vom Münchner Geschichtsprofessor Hans Günter Hockerts und dem Scholl-Biografen Robert M. Zoske. Kalusche betrachtet sich als „Hilfsarbeiter“ der Öffentlichkeit: „Die Edition soll ein barrierearmes Hilfsmittel sein, das von überall genutzt werden kann.“ Er grabe in den Archiven, schreibe ab und scanne - „andere können dann mit diesen Quellen weiterarbeiten“.