Osnabrück (epd). Historiker und Rechtswissenschaftler der Universität Osnabrück haben dem Bistum Osnabrück und dem amtierenden Bischof Franz-Josef Bode bis über das Jahr 2000 hinaus schwerwiegende Pflichtverletzungen in Fällen sexualisierter Gewalt vorgeworfen. Dadurch habe das Bistum weitere Minderjährige in Gefahr gebracht, sagte der Rechtswissenschaftler Hans Schulte-Nölke am Dienstag bei der Vorstellung eines Zwischenberichts zu sexualisierter Gewalt im Bistum. Er ergänzte: „Die Bischöfe trifft bei der Entscheidung über den weiteren Einsatz Beschuldigter eine individuelle Verantwortung.“
Schulte-Nölke leitet gemeinsam mit der Historikerin Siegrid Westphal das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt. Das Bistum hatte die Uni beauftragt, Fälle sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen im kirchlichen Raum seit 1945 zu untersuchen. Es stellt für das Projekt 1,3 Millionen Euro zur Verfügung. Die Wissenschaftler haben darüber hinaus freie Hand und sind nach eigenen Angaben vollständig unabhängig. Bis 1995 gehörte auch das heutige Erzbistum Hamburg zum Bistum Osnabrück.
Der Zwischenbericht nach einem Jahr Arbeit mache auf 600 Seiten anhand von 16 anonymisierten Fallbeispielen aus den 1970er bis 1990er Jahren die Pflichtverletzungen transparent, erläuterte Schulte-Nölke. Schwer belastete Beschuldigte seien zwar von ihren Aufgaben entbunden, dann aber erneut in Bereichen eingesetzt worden, wo sie mit Messdienern oder in der Jugendseelsorge tätig gewesen seien. Dadurch hätten sie neue Tatgelegenheiten erhalten. In „zwei bis drei Fällen“ treffe das auch auf Bischof Bode zu, der das Bistum seit 1995 leitet. Seit 2010 habe die Bistumsleitung dazu gelernt und in den meisten Fällen konsequentere Maßnahmen gegen Beschuldgte ergriffen.
Zahlreiche Pflichtverletzungen bis in die heutige Zeit sieht das Forschungsteam bei der Hilfe und finanziellen Entschädigung für Betroffene. Das Bistum zeige bis heute keine Bereitschaft, den Betroffenen gegenüber großzügig zu sein und seine eigene Verantwortlichkeit und Schuld vorbehaltlos anzuerkennen, betonte der Jurist: „Betroffene wurden bürokratisch und abweisend behandelt. Die generelle Linie ließe sich mit ‚Verzögern und Abwehren‘ beschreiben.“
Bischof Bode habe 2010 zwar in einem Bußgottesdienst die Betroffenen öffentlichkeitswirksam um Vergebung gebeten: „Aber danach ist kein Ruck durch das Bistum gegangen“, bemängelte Schulte-Nölke. Die Obergrenzen der Anerkennungs-Zahlungen blieben weit hinter den staatlichen Leistungen in solchen Fällen zurück. Erst die 2019 vom Bistum eingesetzte und mit nichtkirchlichen Fachleuten besetzte Monitoringgruppe übe zunehmend Druck auf eine „störrische“ Bistumsleitung aus. Seitdem gehe die Lernkurve auch in diesem Bereich nach oben.
Handlungsleitende Motive seien erkennbar Geheimhaltung und der Schutz des Ansehens der Kirche und der Beschuldigten gewesen, betonte die Historikerin Siegrid Westphal. Zudem seien die Bischöfe offensichtlich überfordert gewesen, weil sie sich einerseits zur Fürsorge den beschuldigten Priestern gegenüber verpflichtet fühlten. Andererseits hätten sie als deren Vorgesetzte und Richter einschneidende Maßnahmen gegen sie treffen müssen.
Schwere Organisationsmängel in der Bistumsverwaltung hätten ebenfalls zu den Pflichtverletzungen beigetragen, sagte Westphal. So seien etwa nicht für alle einsehbare Sonderakten geführt worden und Zuständigkeiten nicht klar verteilt gewesen. Diese Mängel erschwerten aktuell auch die Arbeit der Wissenschaftler.
Für die im Rahmen einer Steuerungsgruppe an der Studie beteiligten Betroffenen lobte Karl Haucke die wissenschaftliche Arbeit. Sie biete die Chance, ein Gesamtbild vom Rechtsverständnis, der Ausrichtung und der Amtsauffassung eines Bistums zu erhalten. Haucke, der sexualisierte Gewalt in einem katholischen Ordensinternat außerhalb des Bistums Osnabrück erfahren hat, forderte eine staatliche Aufsicht über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in allen Bistümern. „Weil es nicht überall so gut läuft wie in Osnabrück.“ Er rief die verantwortlichen Kleriker dazu auf, ihre individuelle Schuld zu bekennen: „Machen Sie Schluss mit dem katholischen Wir.“