Frankfurt a.M. (epd). Aus Sicht des Kölner Kirchen-Experten Erik Flügge hätte die evangelische Kirche für die Trauung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und Franca Lehfeldt eine Rechnung ausstellen sollen. „So wäre der Eindruck der Ungerechtigkeit vermieden worden, weil Kirchenmitglieder eine Leistung finanzieren, welche die Brautleute als Nicht-Mitglieder gratis beanspruchen“, sagte der Publizist dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack sieht die Hochzeit als „ein Zeichen unserer Zeit“. Die Mehrheit der Menschen sei mittlerweile kirchenfern, wolle aber auf den Segen Gottes nicht verzichten, sagte er dem epd.
Lindner und Lehfeldt hatten sich am Wochenende in der St.-Severin-Kirche in Keitum auf Sylt evangelisch trauen lassen, obwohl beide keine Kirchenmitglieder sind. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, äußerte sich skeptisch über die Trauung. Die Rechtslage auch in der Nordkirche, zu deren Gebiet Sylt gehört, sei, nach einem Kirchenaustritt nicht in einer Kirche heiraten zu können, sagte Kurschus dem „Westfalen-Blatt“ (Montag). „Es gibt aber einzelne Fälle, in denen eine Pfarrperson aus besonderen seelsorglichen Gründen davon abweicht und dies mit ihrem Gewissen vertritt“, erklärte sie. Solche „seelsorglichen Gründe“ seien allerdings keine Allerweltsgründe.
Die geistliche und theologische Glaubwürdigkeit der Kirche sieht Erik Flügge nicht beschädigt. „In der Kirchengeschichte war es schon immer so, dass Hochzeiten von Staatsleuten eine politische Dimension hatten und man es mit dem religiösen Ernst der Brautleute besser nicht zu genau genommen hat“, gab der Politikwissenschaftler zu bedenken, der bereits mehrfach als Politik-Berater für Grüne und SPD tätig war. Indem die Brautleute ein starkes religiöses Symbol suchten, komme immerhin ein religiöses Grundbedürfnis zum Tragen. „Der Bundesfinanzminister und sein ganzes Umfeld begeben sich im Traugottesdienst in einen spezifisch religiösen Kontext.“ Dies sei auch aus Kirchensicht zu begrüßen.
Der Religionssoziologe Pollack zeigte sich ebenfalls überzeugt, dass Lindners Kirchenaustritt dem religiösen Anliegen nicht per se widerspreche. Bei seiner Vereidigung als Minister habe Lindner die Formel „So wahr mir Gott helfe“ gesprochen, sagte der Soziologe. Viele Menschen, auch Kirchenmitglieder, könnten heutzutage mit der Kirche nicht viel anfangen, seien aber trotzdem an ihrem Segen interessiert. „Sie wollen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es etwas gibt, das über das Irdische hinausgeht und auf dessen Wohlwollen sie angewiesen sind.“
Die Kritik, wonach sich die Kirche in Keitum habe instrumentalisieren lassen, hält Pollack für überzogen. Der Fall veranschauliche das doppelte kirchliche Anliegen, für ihre Botschaft einzutreten und sich dabei nicht dem Zeitgeist anzupassen, aber auch offen für möglichst viele zu sein. „Die evangelische Kirche ist dezidiert keine autoritär agierende Institution, die sich abschließt und von oben nichts als die Wahrheit verkündet, sondern eine dialogische Institution, die in allem die Bedürfnisse der Menschen im Blick behalten will“, sagte Pollack. Sie würde ihrem Auftrag untreu, wenn sie zwei Menschen den Segen verweigerte, die um ihn bitten.