Die Pandemie hat auch das kirchliche Leben sowie das theologische Denken mächtig durcheinandergewirbelt und gehörig auf den Kopf gestellt. Sowohl in der kirchlichen Praxis als auch in der theologischen Reflexion, wie die Praxis verantwortet und gestaltet werden könne, gab es zunächst viel Sprach- und Ratlosigkeit, die teilweise oder auch immer mal wieder bis in die Gegenwart anhält, zumal in diesem Jahr der Ukraine-Krieg dazu gekommen ist und für den Klimawandel auch noch nicht ansatzweise tragfähige politische Wege in Sicht sind. Der westfälische Landesmännerpfarrer Martin Treichel benennt diesen Umstand in seiner Weihnachtspredigt 2021: "Für alle jene unter uns, die wie ich zu denen gehören, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind, hat es nie Krisen, Konflikte, Katastrophen in einem großen Ausmaß gegeben. Es gab individuelles Leid und persönliche Schicksalsschläge, aber eine Situation, die eine ganze Gesellschaft krisenhaft beschäftigt und mancherlei Teile des Lebens lahmlegt, die gab es seit 1945 hier bei uns jedenfalls nicht mehr. […] Mit Corona erleben wir jetzt, was die tägliche Erfahrung fast aller Menschen zu fast allen Zeiten gewesen ist: Leben ist gefährdet, Leben ist endlich, Leben ist zerbrechlich." (Seite 158)
Angesichts dieser Großwetterlage ist den Verantwortlichen der Evangelischen Kirche von Westfalen hier ein Buch gelungen, das diese neue alte Situation klar benennt, klug beschreibt, schmerzlich beklagt, verständnisvoll bespricht und nicht ohne Hoffnung bewegt. Das Buch enthält die beiden Berichte von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, auf den Synoden 2020 und 2021, die coronabedingt digital stattfinden mussten, gefolgt von einem im Februar 2022 verabschiedeten Votum des Ständigen Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), das sich mit der Coronasituation theologisch auseinandersetzt und der Landessynode im Juni 2022 vorgelegt wurde. Dazu werden die drei Vorträge von Thorsten Moos, Ralf Stolina und Carsten Haeske abgedruckt, die dem Theologischen Ausschuss als Impulse für sein Votums dienten.
Die beiden "theologischen Zeitansagen" (Seite 9) der Präses bringen den "besonderen Ton der Theologie" (23) eindrücklich zur Sprache und vermögen "einen Ton in das Leben ein[zu]tragen, den sonst niemand einträgt" (24). Der erste Bericht vom November 2020 stellt "die ernsthafte Frage nach Gott" (29) und bereitet die Kirche auf ein schwieriges und ungewohntes Weihnachten 2020 vor angesichts "zerrissener Selbstverständlichkeiten" und eines für viele erstmaligen Gefühls "eines allgemeinen Kontrollverlustes" (31). Kurschus macht deutlich "was wir einander schulden" (34), dass wir "von Hoffnung nicht schweigen" (35), "krisentauglich von Gott reden" (36) und "die Nächsten wahrnehmen" (40), weil Weihnachten heißt: "Gerettet sind wir. Gottlob!" (43) Ihr Bericht ein Jahr später vertieft die seitdem gemachten Erfahrungen anhand des 126. Psalms und des Nehemia-Buches und lässt so die Hoffnungsperspektive des Aufbauens erklingen, ohne Schmerz und Trauer zu verschweigen.
Das Votum des Ständigen Theologischen Ausschusses stellt "die Frage nach Gott in der Pandemie" und ermutigt dazu, "Krisenerfahrungen theologisch [zu] deuten" (61). Hier geht es um "Gott als Gegenüber" (62), um die Fruchtbarkeit der Vielfalt von Gottesbildern, um "Gotteserfahrungen über das Leid hinaus" (65) und um Gebet, Trost, Seelsorge sowie ein "Sich in biblischen Texten bergen" (73).
In dieses Votum sind die drei theologischen Impulsvorträge eingegangen, die die theologischen Spitzen noch etwas pointierter setzen können. Thorsten Moos, seinerzeit Professor für Systematische Theologie und Diakoniewissenschaft in Bethel, mittlerweile in Heidelberg, stellt "die Frage nach Gott und die theologische Fatigue in Zeiten der Pandemie", benennt die "Ermüdungsbrüche im theologischen Bestand" (75) und stellt "eine kleine, unvollständige Dogmatik theologischer Fatigue" (76) vor. Wie kann von einem Gott geredet und was kann von einem Gott gehofft werden, der nicht nur an der Todesgrenze, sondern auch mitten im Leben zuständig ist, ohne dabei in einen unauflöslichen Konflikt mit den Erkenntnissen und Ansprüchen der Medizin zu geraten? Wie kann Gott als Gegenüber wahrgenommen werden, an den sich allererst sinnvollerweise Klagen richten lassen? "Wer Gott zu schnell auf meine Seite stellt, nimmt ihn mir als Gegenüber" (80) lautet ein Spitzensatz von Moos mit einer weiterführenden Beobachtung: Die Gotteslehre einer Theologie nach Auschwitz hatte ihre Berechtigung vor dem Hintergrund, dass die Rede von Gottes Allmacht im Hals stecken blieb. Dieser ungeheure Verlust, der mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, ist aber im routinierten Wiederholen dieser Theologie gegenwärtig kaum noch zu spüren. Von hieraus muss mithilfe verschütteter theologischer Einsichten neu nach Sündenlehre, Schulddiskursen und Anthropologie gefragt werden. Dabei geht es über die neuzeitliche kirchliche Fokussierung auf den Einzelnen hinaus auch wieder um theologische Deutungen von kollektiven Widerfahrnissen und Erfahrungen. Moos streicht dabei die Bedeutung von Diakonie als Kirche deutlich heraus – ich ergänze hier den Religionsunterricht. Moos zeigt, dass der Satz "Krankheit ist eine Strafe Gottes" ebenso falsch ist wie der Satz "Krankheit ist keine Strafe Gottes". Stattdessen ist Raum zu schaffen für eine "plurale Phänomenologie pandemischer Erfahrungen" und damit für "die Verflüssigung des theologischen Redens in der Pandemie und über die Pandemie" (91).
Die Beiträge von Ralf Stolina und Carsten Haeske widmen sich solchen Erfahrungen im und als Gebet und breiten den Reichtum theologischer und spiritueller Gebetserfahrungen aus. Haeske macht deutlich, wie Corona das gottesdienstliche Beten verändert hat und benennt dabei vor allem viele neue Erfahrungen und Gestalten und Gestaltungen des öffentlichen Gebets und Gottesdienstes. Es bleibt zu hoffen, dass diese Aufbrüche nachhaltig sind für die kirchliche Praxis. So darf dieses Buch mit Fug und Recht ein theologisches Kompendium angesichts der jüngsten Corona-Erfahrungen genannt werden, das hoffentlich viele Menschen erreicht und sie ebenso zu begeistern vermag wie mich.