Bonn (epd). Die ukrainische Historikerin Olga Radchenko hat Russland das moralische Recht abgesprochen, sich weiter zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs zu zählen. Die Ukraine zähle infolge des Zweiten Weltkriegs mehr als vier Millionen getötete Zivilisten sowie etwa vier Millionen sowjetische Soldaten und Offiziere, sagte die Geschichtsprofessorin von der Universität Tscherkassy am Mittwoch bei einer Podiumsdiskussion der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn zum 81. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941. „Die zeitgenössischen Kriegsgeschehnisse vernichten erneut das Land und das Volk“, sagte die Historikerin.
In der Ukraine gebe es mehr als 40.000 Denkmäler und Friedhöfe des Zweiten Weltkriegs. Die Russische Föderation schreibe sich als Rechtsnachfolger der Sowjetunion den Sieg über den Faschismus alleine zu. Deshalb seien jetzt in der Ukraine bereits einige Mahnmale für die Rote Armee demontiert oder ihre Inschriften geändert worden. Der Name einer U-Bahn-Station in Kiew erinnere nicht mehr an die Sowjetsoldaten, sondern an die „Helden der Ukraine“, erklärte Radchenko. Auch Straßenumbenennungen seien in Planung oder bereits vollzogen.
Die Wissenschaftlerin beklagte, dass die Archive in der Ukraine jetzt im Krieg gefährdet oder bereits zerstört sind, in einigen Fällen wurde ihr Bestand auch nach Russland gebracht. „Um als Historiker in den Archiven zu forschen, braucht man vor allem Frieden“, betonte sie. Russland dagegen betreibe eine restriktive Archivpolitik.
Zu dem ukrainischen Nationalisten und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera (1909-1959), der noch heute von vielen in der Ukraine als Freiheitskämpfer verehrt wird, sagte Radchenko kritisch, die Geschichte des ukrainischen Nationalismus werde ausschließlich als antisowjetische Befreiungsbewegung gesehen. An die Stelle des stalinistischen Konstrukts vom „Großen Vaterländischen Krieg“ sei heute in der Ukraine die Rede von der nationalen Befreiung getreten.
Dass Stalins Sowjetunion schon zwei Angriffskriege geführt hatte - gegen Polen und Finnland - als sie von Hitlerdeutschland überfallen wurde, daran erinnerte Dieter Pohl, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Klagenfurt. Der deutsche Vernichtungskrieg habe sich keineswegs nur gegen Russland gerichtet, wie der bis heute übliche Begriff „Russlandfeldzug“ nahelegt, sondern etwa auch gegen Ukrainer, Weißrussen und Balten.
Axel Drecoll von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten warnte davor, die sowjetischen Ehrenmale auch in Deutschland zu stürzen: „Abreißen kann keine Option sein.“ Orte der Erinnerung seien notwendig, denn das Gedenken brauche die sorgfältige Dokumentation, um sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Gedenkstätten müssten vernetzte Orte sein, die gesamteuropäisch verstanden werden.