Osteuropa-Forscherin: Russen sehen sich als Vertreter eines Imperiums

Osteuropa-Forscherin: Russen sehen sich als Vertreter eines Imperiums
03.05.2022
epd
epd-Gespräch: Katrin Nordwald

Düsseldorf (epd). Ein in Russland weit verbreitetes imperiales Denken behindert nach Einschätzung der Osteuropa-Forscherin Beate Fieseler bislang eine kritische Betrachtungsweise des Angriffskrieges auf die Ukraine. „Nach dem Ende der Sowjetunion hat das Land nicht daran gearbeitet, sich eine eigene, russländische Identität zu geben“, sagte Fieseler dem Evangelischen Pressedienst (epd). Viele trauerten dem zerfallenen Sowjetimperium nach. Von daher finde Wladimir Putins Behauptung, auch Belarus und die Ukraine seien Teil der ''russischen Welt„, durchaus Anhänger. “Russen sehen sich als Vertreter eines Imperiums."

Die von Putin gleichgeschaltete Medienlandschaft und das 2021 verabschiedete umstrittene Gesetz gegen Geschichtsfälschung, das Narrative wie die vom Großen Vaterländischen Krieg und vom Sieg der Sowjetunion vor Kritik bewahren soll, bedienten dieses Bild. „Die Krim-Annexion löste selbst unter ansonsten Putin-kritischen Intellektuellen keine breite Ablehnung aus“, berichtete die Professorin, die bis Ende März den Lehrstuhl für Geschichte und Kulturen Osteuropas an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf innehatte und Mitglied der Deutsch-Russischen Historikerkommission ist.

Frühere Parteifunktionäre und Ex-KGB-Agenten wie Putin könnten sich nicht vorstellen, dass Menschen sich spontan kollektiv gegen die politische Führung auflehnten, sagte Fieseler. „Nach dieser Auffassung konnten die Massendemonstrationen gegen gefälschte Wahlergebnisse im Jahr 2004 sowie der Euromaidan 2014 und alle nachfolgenden Europäisierungs- und Demokratiebestrebungen in der Ukraine nur vom Westen gesteuert sein.“

Nichtregierungsorganisationen in Russland, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhielten, stünden schon lange unter Druck. Die im Dezember verbotene Gesellschaft Memorial zum Beispiel sei infolge des russischen Gesetzes über „ausländische Agenten“ seit 2012 systematisch mit Strafverfahren und Geldstrafen überzogen worden. „Da bleiben wenig Zeit und Mittel für die eigene inhaltliche Arbeit“, konstatierte Fieseler. Die Diffamierung als „Agenten“ habe sie zudem in der öffentlichen Wahrnehmung unglaubwürdig gemacht.

Derzeit verschärfe sich die Lage ausländischer Stiftungen in Moskau. „Sie haben noch keinen Brief aus dem Kreml bekommen, doch die Linie ist, sie sollen verschwinden“, sagte Fieseler. Die deutsche Seite der Deutsch-Russischen Historikerkommission habe ebenso wie das Deutsche Historische Institut (DHI) in Moskau alle Veranstaltungen bis auf Weiteres abgesagt, die Arbeit liege auf Eis. Wie das eigentliche Ziel der Einrichtungen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Historikern beider Länder zu fördern, in Zukunft wieder mit Leben erfüllt werden könne, müsse mit Fortbestand des russischen Krieges gegen die Ukraine täglich neu bewertet werden.

Vergleiche zur Stalinzeit lehnt die Osteuropa-Expertin jedoch ab. Repressionen wie zur Zeit des sogenannten Großen Terrors, als 1937 und 1938 im Rahmen einer einzigen „Massenaktion“ rund 1,5 Millionen Menschen verhaftet und etwa 700.000 von diesen erschossen wurden, gebe es im heutigen Russland nicht.