Berlin (epd). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht mit der Fluchtbewegung aus der Ukraine „gewaltige Aufgaben“ auf Deutschland zukommen. „Was wir erleben, das ist wahrscheinlich die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagte Steinmeier am Freitag bei einer Veranstaltung mit Bürgermeistern und Kommunalpolitikerinnen in Berlin. Der Staat sei gefordert, um die Geflüchteten im Bundesgebiet zu verteilen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von einem „Kraftakt“ bei Unterbringung, Versorgung und Verteilung. Mehr als 197.000 Kriegsflüchtlinge wurden bislang von der Bundespolizei in Deutschland registriert. Laut UN sind Millionen Menschen aus der Ukraine inzwischen auf der Flucht.
Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland dürfte höher sein als angegeben, da an den deutschen Grenzen nicht lückenlos kontrolliert wird und Ukrainer ohnehin für 90 Tage ohne Visum einreisen können. Viele kommen derzeit privat unter, unterstützt von Freiwilligen, die auch an Bahnhöfen das Nötigste an Vertriebene verteilen. Ihn beeindrucke das Engagement, die Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit der vor Ort Verantwortlichen und Freiwilligen zutiefst, sagte Steinmeier. Der Lastenausgleich unter den Ländern sei nun das Gebot der Stunde, damit freiwilliges Engagement nicht schon in kurzer Zeit an seine Grenzen komme.
Der Bund gibt den Ländern inzwischen nach dem Königsteiner Schlüssel vor, wie viele Menschen sie jeweils aufnehmen sollen und hilft mit Bussen und Unterstützung der Bahn bei der Verteilung. „Die Erstaufnahmen sind gerade stark belastet“, sagte Faser beim Besuch eines Ankunftszentrums im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Sie dringt auch auf eine bessere Verteilung der Vertriebenen in der EU. „Das Ziel muss eine Verteilung der Ukraine-Geflüchteten innerhalb Europas nach festen Quoten sein“, sagte sie dem „Spiegel“. Zudem hofft Faser auf Unterstützung von Staaten außerhalb Europas und nannte konkret die USA, Kanada oder Japan.
Laut Hilfswerk UNHCR sind inzwischen 3,1 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, die meisten nach Polen. Insgesamt stürzt der Krieg noch weit mehr Menschen in Leid und Elend. Millionen Familien hungerten oder seien vom Hunger bedroht, warnte der Sprecher des Welternährungsprogramms, Tomson Phiri. Die Produktions- und Lieferketten für Nahrungsmittel in der Ukraine brechen den Angaben nach auseinander. Lastkraftwagen und Züge seien zerstört, Flughäfen zerbombt, Brücken eingestürzt, Supermärkte und Vorratslager geleert.
In Deutschland herrscht derweil Optimismus, dass die Hilfsbereitschaft für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine anhält. Der Mannheimer Migrationsforschers Paul Berbée wies auf Ergebnisse einer eigenen Studie hin, wonach die Solidarität in der Bevölkerung im Zuge des großen Flüchtlingsandrangs 2015 nicht eingebrochen ist.
Der Migrationsforscher Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, mahnte, aus der Fluchtbewegung 2015 auch für die Integration zu lernen und auf Wohnsitz-Auflagen für Flüchtlinge zu verzichten. „Ich verstehe die Not von stark belasteten Ländern wie Berlin, aber alle Forschungen zeigen, dass dies schon in der Vergangenheit falsch war“, sagte er dem „Spiegel“. Ohne die Verpflichtung, an einem zugewiesenen Wohnort zu bleiben, könnten die Menschen leichter Arbeit finden. Zu Wohnsitz-Auflagen können die Behörden greifen, wenn Flüchtlinge staatliche Leistungen in Anspruch nehmen oder die gerechte Verteilung auf die Länder damit gewährleistet werden soll.