Berlin (epd). Der russische Angriff auf die Ukraine hat in Deutschland eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst, die sich nach Einschätzung der Kommunikationswissenschaftlerin Carola Richter von der Willkommenskultur früherer Flüchtlingswellen unterscheidet. „Diejenigen Menschen, die helfen wollen, tun das sicherlich aus den gleichen Gründen, wie diejenigen 2015“, sagte die Wissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Die Menschen seien entsetzt von dem, was in den Heimatländern der Geflüchteten geschieht, hätten Mitleid und Empathie mit den Betroffenen. „Was anders ist, ist die diskursive Rahmung. Die Ukraine wird in den Medien und politischen Diskursen als modernes, europäisches Land dargestellt“, sagte Richter. Menschen aus islamisch geprägten Ländern oder dem südlichen Afrika dagegen seien über Jahrzehnte hinweg als kulturell fern und mit häufig nicht-kompatiblen Werten dargestellt worden.
„Das Kriterium der Herkunft der Geflüchteten spielt in der politischen Bewertung offensichtlich eine große Rolle“, betonte die Kommunikationswissenschaftlerin. So habe es in Polen in der Zivilbevölkerung große Hilfsbereitschaft gegeben, als auf belarussischer Seite einige hundert Geflüchtete über die Grenze nach Polen gestrebt hätten. Die Warschauer Regierung habe jedoch einen radikalen Kurs der Ablehnung verfolgt: „Nun aber, bei der Betroffenheit der als 'Brudervolk' angesehenen Ukrainer, lässt sich diese Abwehr nicht mehr aufrechterhalten.“
Überdies spiele die Einschätzung der jeweiligen Bedrohungslage eine Rolle, so Richter: „Schon 2015 gab es einen Unterschied bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit der Flucht, ob jemand aus Syrien kam und unmittelbar von einem brutalen Regime verfolgt wurde oder aus Afghanistan, Irak, Nigeria und damit 'nur' ein 'Wirtschaftsflüchtling' war.“
Sollte der Zustrom an Flüchtenden aus der Ukraine anhalten, könnte die Aufnahmebereitschaft in Deutschland sinken, sagte Richter weiter. Vermutlich werde die akute Kriegssituation bald durch Verhandlungen und eine instabile Lage abgelöst. In diesem Fall würde die massenhafte Flucht abschwellen. In Phasen der akuten Nothilfe werde immer davon ausgegangen, dass der Flüchtlingsstrom nicht dauerhaft anhalte, betonte die Kommunikationswissenschaftlerin: „Wenn der Fluchtzustand zum Dauerzustand würde, dann könnte auch in Deutschland die Hilfsbereitschaft sinken und xenophobe Äußerungen könnten stärker werden.“