München, Augsburg (epd). Einer der bekanntesten Rabbiner und NS-Zeitzeugen in Deutschland ist tot: Henry Brandt starb am Montag im Alter von 94 Jahren, wie die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern und der Zentralrat der Juden in Deutschland am Dienstag mitteilten. Rabbiner Brandt zählte zu den prägenden Persönlichkeiten im liberalen Judentum sowie im jüdisch-christlichen Dialog in Deutschland.
Zentralrats-Präsident Josef Schuster sagte, dass Brandt über Jahrzehnte „mit Klugheit und einem großen Wissen“ den jüdisch-christlichen Dialog geführt habe. Dabei sei es ihm gelungen, auch in schwierigen Phasen den Gesprächsfaden nie abreißen zu lassen. „Beharrlich und ohne den eigenen Standpunkt zu verleugnen, hat er immer wieder Brücken zu den Kirchen geschlagen.“ Er sei im besten Sinne „Lehrer und Ratgeber“ gewesen.
Die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK) trauert um die Vaterfigur (Doyen) des liberalen Judentums in Deutschland. Ihr Ehrenvorsitzender Brandt habe es über Jahrzehnte verstanden, Reformen in die jüdische Tradition und Tradition in alles Neue zu geben, heißt es in einer Mitteilung. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, „die Tora zum Glänzen zu bringen“. Brandt war von 2004 bis 2019 Vorsitzender der ARK. Von 1985 bis 2016 war er Jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Die frühere Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch sagte: „Mit ihm verlieren Deutschland und die jüdisch-deutsche Gemeinschaft eines ihrer wichtigsten Gesichter und eine ihrer eindringlichsten Stimmen.“ Wie kaum ein Zweiter habe Rabbiner Brandt dazu beigetragen, nach der völligen Zerstörung das jüdische Leben in seinem Geburtsland Deutschland wieder aufzubauen, sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
Brandt sei einer der letzten Zeitzeugen der NS-Zeit in München gewesen, „sein Tod ist daher ein besonderer Verlust“, sagte Knobloch weiter. Er habe zu den wenigen gezählt, die noch die alte Münchner Hauptsynagoge und den Horror des Jahres 1938 mit der Reichspogromnacht mit eigenen Augen erlebt hätten. Henry Brandt wurde 1927 in München geboren, 1939 floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten über Großbritannien nach Israel.
Brandt diente im israelischen Unabhängigkeitskrieg, absolvierte ein Wirtschaftsstudium in Nordirland und anschließend die Rabbinerausbildung in England. In den 1980er Jahren kehrte er nach Deutschland zurück und betreute mehrere jüdische Gemeinden. 1983 wurde er Landesrabbiner von Niedersachsen, von 1995 bis 2005 war er Landesrabbiner von Westfalen-Lippe. Danach kam er wieder nach Bayern: als Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg, der er bis 2019 war.
Der bayerische evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), Brandt sei ein Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und Motor und Mentor des jüdisch-christlichen Dialogs gewesen.
Die Katholiken in Augsburg und weit darüber hinaus hätten einen „älteren Bruder“ verloren, der in seinem Glauben treu und verlässlich war, sagte der Augsburger Bischof Bertram Meier. Für sein Lebenswerk im interreligiösen Dialog und „insbesondere für seinen großherzigen und unermüdlichen Einsatz für die Verständigung zwischen Juden und Christen“ zeichnete die Fokolarbewegung Deutschland Brandt vor fünf Jahren mit dem Klaus-Hemmerle-Preis aus. Für seine wegweisende Funktion im jüdischen-muslimischen Dialog zeichnete ihn 2005 die Stiftung Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland in Soest mit einem islamischen Medienpreis aus. Rabbiner Brandt war verheiratet und hatte vier Kinder und sieben Enkel.