München, Augsburg (epd). Einer der bekanntesten Rabbiner in Deutschland und NS-Zeitzeugen in Deutschland ist tot: Henry Brandt sei am Montag im Alter von 94 Jahren verstorben, teilten die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern und der Zentralrat der Juden in Deutschland am Dienstag mit. Rabbiner Brandt zählte zu den prägenden Persönlichkeiten im liberalen Judentum sowie im jüdisch-christlichen Dialog in Deutschland.
Zentralrats-Präsident Josef Schuster sagte, dass Brandt über Jahrzehnte „mit Klugheit und einem großen Wissen“ den jüdisch-christlichen Dialog geführt habe. Dabei sei es ihm gelungen, auch in schwierigen Phasen den Gesprächsfaden nie abreißen zu lassen. „Beharrlich und ohne den eigenen Standpunkt zu verleugnen, hat er immer wieder Brücken zu den Kirchen geschlagen.“ Er sei im besten Sinne „Lehrer und Ratgeber“ gewesen.
Die frühere Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch sagte: „Mit ihm verlieren Deutschland und die jüdisch-deutsche Gemeinschaft eines ihrer wichtigsten Gesichter und eine ihrer eindringlichsten Stimmen.“ Wie kaum ein Zweiter habe Rabbiner Brandt dazu beigetragen, nach der völligen Zerstörung durch die Nationalsozialisten das jüdische Leben in seinem Geburtsland Deutschland wieder aufzubauen, sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
Brandt sei einer der letzten Zeitzeugen der NS-Zeit in München gewesen, „sein Tod ist daher ein besonderer Verlust“, sagte Knobloch weiter. Er habe zu den wenigen gezählt, die noch die alte Münchner Hauptsynagoge und den Horror des Jahres 1938 mit der Reichspogromnacht mit eigenen Augen erlebt hätten.
Henry Brandt wurde 1927 in München geboren, 1939 floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten über Großbritannien nach Israel. Brandt diente im israelischen Unabhängigkeitskrieg und absolvierte später eine Rabbinerausbildung in England. In den 1980er Jahren kehrte er nach Deutschland zurück und betreute mehrere jüdische Gemeinden. 1983 wurde er Landesrabbiner von Niedersachsen, von 1995 bis 2005 war er Landesrabbiner von Westfalen-Lippe. Danach kam er wieder nach Bayern: als Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg, der er bis 2019 war.
Für sein Lebenswerk im interreligiösen Dialog und „insbesondere für seinen großherzigen und unermüdlichen Einsatz für die Verständigung zwischen Juden und Christen“ zeichnete die Fokolarbewegung Deutschland Brandt vor fünf Jahren mit dem Klaus-Hemmerle-Preis aus. Bei einer interreligiösen Gedenkfeier in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz erinnerte der Rabbiner gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Ayman Mazyek, 2018 an die Opfer des Holocausts.
Von 2004 bis 2019 war Brandt außerdem Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands. Von 1985 bis 2016 war er Jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Rabbiner Brandt war verheiratet und hatte vier Kinder sowie sieben Enkel.