Trier (epd). Der Trierer Soziologe Michael Jäckel spricht mit Blick auf die Corona-Pandemie von einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung, die zugleich einzelne Teile der Gesellschaft sehr unterschiedlich bedroht oder beeinträchtigt. So sei das Infektionsgeschehen Studien zufolge seit Beginn an sehr stark von Wohnverhältnissen oder Arbeitsbedingungen abhängig. Aber in der allgemeinen Gefährdungslage werde dies in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, sagte der Professor und Präsident der Universität Trier dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Es gibt nicht nur die Illusion einer egalitären Gesellschaft, sondern auch die eines egalitären Virus.“
In kollektiven Situationen wie einer Viruspandemie stehe die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit nicht im Vordergrund, räumte Jäckel ein. Zwar sei die Sorge nach besonders massiven Ausbrüchen groß, etwa in bestimmten Industriezweigen. Aber das Zahlenbarometer über Neuansteckungen als solches „blieb dann doch die dominante Wahrnehmung der Krise“.
Angesichts wachsender Herausforderungen wie dem Klimawandel und weiteren massiven Umbrüchen nimmt die Anspannung zu, viele Menschen sehnen sich nun nach mehr „Nestwärme“, sagte der Wissenschaftler hinzu. Viele haben die Einschränkungen der Pandemie stärker erlebt als andere, nicht nur jene, die seit langer Zeit am Rande der Erschöpfung arbeiten. Überlastung und erzwungene Passivität existieren nebeneinander. Jäckel: „Man sehnt sich nach Anerkennung und fühlt sich in dieser gereizten Gesellschaft nicht mehr zuhause.“
Die Liste der Bereiche, die auf ein Licht am Ende des Tunnels warten, werden Jäckel zufolge immer länger. Neben das „Kollektivschicksal“ und die vielen Opfer treten Gruppen, die in besonderer Weise ein „Generation Corona“-Gefühl entfalten: Teile des Handels, die Gastronomie, Kunst und Kultur, Selbstständige, Schausteller und andere. Der Staat sehe sich einer wachsenden Zahl von Anspruchsgruppen gegenüber und müsse Ausgleichskonzepte für alte und neue Benachteiligungsfelder auf den Weg bringen.
Die Politik habe während der Pandemie viele Integrationsanstrengungen unternommen, etwa durch KfW-Hilfen oder Steuererleichterungen, sagte Jäckel. Dennoch scheine es, dass viele Menschen nicht mehr über Fernziele nachdenken: „Dem Fortschrittsgedanken scheint die Puste auszugehen.“ Die Zielscheibe müsse „andauernd neu justiert werden.“ Aber zur Gesellschaft gehöre nicht nur, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wichtig sei auch, dass man sich an etwas festhalten könne.