Berlin, Santiago de Chile (epd). Chiles neu gewählter Präsident Gabriel Boric hat die Einheit des politisch tief gespaltenen Landes beschworen. „Wir stehen an einem Wendepunkt, den dürfen wir nicht verpassen“, sagte Boric in der Nacht zum Montag (Ortszeit) in Santiago nach seinem Wahlsieg. Er versprach die Offenheit seiner Regierung, die immer in engem Kontakt mit den sozialen Bewegungen stehen werde. Der frühere Studentenführer gewann die Stichwahl um das Präsidentenamt mit 55,9 Prozent der Stimmen, wie die Nationale Wahlkommission nach Auszählung nahezu aller Stimmen mitteilte. Sein rechtskonservativer Kontrahent José Antonio Kast kam auf 44,1 Prozent der Stimmen.
Die Wahl galt als die wichtigste Richtungsentscheidung nach dem Ende der Pinochet-Diktatur. Mit dem 35-jährigen Boric wurde nicht nur der jüngste Präsident Chiles gewählt. Erstmals trat auch ein Politiker an, der nicht den traditionellen Parteien angehört. Noch in der Wahlnacht erkannte Kast seine Niederlage an. „Ich habe gerade mit Gabriel Boric gesprochen und ihn zu seinem großen Triumph beglückwünscht“, schrieb er auf Twitter. „Ab heute ist er der gewählte Präsident Chiles und verdient all unseren Respekt und konstruktive Zusammenarbeit.“ Boric forderte Kast auf, „Brücken zu bauen, damit unsere Landsleute besser leben können“.
Im Zentrum der Hauptstadt Santiago und in anderen Städten feierten Zehntausende Anhänger von Boric den Sieg ihres Kandidaten. Die Wahlen wurden in einem sozial aufgeheizten Klima und zwei Jahre nach den Massenprotesten für mehr soziale Gerechtigkeit abgehalten. Boric trat mit dem Wahlbündnis Apruebo Dignidad („Ich stimme der Würde zu“) an, dem neben dem linken Bündnis Frente Amplio auch die Kommunistische Partei angehört. Boric wird das Präsidentenamt voraussichtlich im März antreten. Im Kongress hat sein linkes Parteienbündnis keine Mehrheit und muss deshalb immer wieder nach neuen Allianzen suchen.
Boric will die neoliberale Wirtschaftspolitik beenden und mehr soziale Gerechtigkeit umsetzen. „Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, wird es auch sein Grab sein“, hatte er im Wahlkampf immer wieder betont. Dafür will er das private Rentensystem in ein staatlich kontrolliertes Fondssystem umbauen, eine Reichensteuer und eine Abgabe für den Abbau von Bodenschätzen einführen. Mit den Einnahmen soll seine soziale Agenda finanziert werden, die auch mehr Gleichheit im Bildungswesen und eine Stärkung des staatlichen Gesundheitssystems vorsieht.
In der Unruheregion Araukanien im Süden des Landes lehnt er eine Militärintervention ab, die von seinem unterlegenen Kontrahenten Kast befürwortet wird. Stattdessen will er in Dialog mit den Ureinwohnern der Mapuche treten, die dort um ihr angestammtes Territorium streiten. Gleichzeitig versprach Boric eine „geordnete und sichere Einwanderungspolitik“, die sich an internationalen Statuten orientiert. Der Rechtsnationalist Kast wollte einen drei Meter tiefen Graben an der Nordgrenze Chiles ausheben, um die illegale Migration, hauptsächlich aus Venezuela und Haiti, zu stoppen. Kast gilt als Sympathisant des früheren Diktators Augusto Pinochet.
Im Jahr 2019 waren vor allem junge Menschen in Chile auf die Straße gegangen, um mehr soziale Gerechtigkeit zu fordern. Der scheidende Präsident Sebastián Piñera versperrte sich vielen Reformen und ließ teilweise die Massendemonstrationen mit brutaler Polizeigewalt beenden. Die Proteste erzwangen eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung. In dem historischen Referendum vom Oktober vergangenen Jahres stimmten mehr als drei Viertel der Wahlberechtigten für eine neue Verfassung.
Die aktuelle Verfassung stammt noch aus Zeiten der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990). Zivilgesellschaftliche Organisationen sehen in ihr den Grund für die tiefe soziale Ungleichheit und verringerte Bildungschancen für einen Großteil der Bevölkerung. Auch die Rechte der indigenen Bevölkerung sind in der Konstitution bislang nicht verankert.