Karlsruhe, Berlin (epd). Mit den im Frühjahr angeordneten Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Schulschließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat der Bund nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. In einer am Dienstag veröffentlichten Entscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht die sogenannte Bundesnotbremse für rechtmäßig. Die Karlsruher Richter beurteilten die Maßnahmen zwar als Eingriff in persönliche Grundrechte, gleichzeitig aber auch als legitim, verhältnismäßig und geeignet, um Gesundheit und Leben der Bürger zu schützen. Das Urteil befeuert die Debatte um den Umgang mit den aktuell hohen Infektionszahlen und der Belastung der Krankenhäuser. Am Dienstagnachmittag wollten die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz (SPD) mit den Ländern beraten.
Der geschäftsführende Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) forderte vor dem Telefonat der Regierungschefs und -chefinnen erneut eine Corona-Notbremse. „Wir sind in Deutschland in die Lage gekommen, die wir immer vermeiden wollten: Unser Gesundheitssystem ist regional überlastet“, sagte Braun den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). In Regionen mit hohem Infektionsgeschehen müssten die Kontakte schnell um 60 bis 70 Prozent reduziert werden.
Mit der sogenannten Corona-Notbremse, die von Ende April bis Ende Juni galt, legte der Bund einheitliche Beschränkungen zur Eindämmung der Pandemie fest. Bei mehr als 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen griffen strenge Kontaktbeschränkungen und eine Ausgangssperre. Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 165 musste der Präsenzbetrieb an Schulen eingestellt werden. Gegen die Notbremse klagten zahlreiche Bürger. Auch die Freien Wähler und die FDP riefen damals das Bundesverfassungsgericht an.
Das urteilte nun, dass der Staat zum Gesundheitsschutz und zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als „überragend wichtige Gemeinwohlbelange“ sowohl Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen als auch Schulschließungen veranlassen könne (AZ: 1 BvR 781/21, 1 BvR 971/21 und weitere). Der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Bayerns Ressortchef Klaus Holetschek (CSU), wertete die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als „wichtiges Signal für die künftigen Maßnahmen“. Das Vorgehen müsse jetzt bundesweit „der Dramatik der Lage angepasst werden“, erklärte er in München.
Der Städte- und Gemeindebund forderte im „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (Dienstag) die Wiedereinführung der „epidemischen Notlage nationaler Tragweite“, die am vergangenen Donnerstag ausgelaufen war. Diese sei wichtig, „um den Ländern Werkzeuge für schnelles und zielgerichtetes Handeln zur Verfügung zu stellen“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg. Auch Kanzleramtschef Braun und andere CDU-Politiker forderten die Notlage zurück, die der Bundestag beschließen müsste.
Die wahrscheinliche künftige Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP hatte die Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geändert. „Die Situation ist heute eine andere als zu Beginn des Jahres, die Impfquote ist beispielsweise deutlich höher“, verteidigte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese am Dienstag die Neuregelung. Er schloss als weitere Maßnahme regionale Lockdowns nicht aus. Der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner bezeichnete Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte als sinnvoll.
Der designierte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) forderte die Bundesländer auf, von den auch im Ampel-Gesetz weiter möglichen Instrumenten konsequent Gebrauch zu machen. Ob sich Bund und Länder dabei auf einheitliche Maßnahmen etwa im Umgang mit Großveranstaltungen verständigen, war am Dienstagnachmittag noch offen. Das Robert Koch-Institut meldete am Dienstag 45.753 neue Infektionen mit dem Coronavirus. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 452,2. Weitere 388 Menschen starben im Zusammenhang mit dem Virus. Die Zahl der Todesopfer liegt damit bei 101.344 seit Beginn der Pandemie.