Berlin (epd). Angesichts der Corona-Lage vor allem in den Kliniken haben der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, Alarm geschlagen und eine sofortige Reduzierung von Kontakten gefordert. „Die Lage ist dramatisch ernst, so ernst, wie noch zu keinem Zeitpunkt in dieser Pandemie“, sagte Spahn am Freitag in Berlin. Wieler sagte, die Belastung der Intensivstationen habe einen Höchststand in der gesamten Pandemie erreicht. Beide forderten die Reduzierung von Kontakten - „jetzt sofort“, drängte Wieler.
Wieler rief dazu auf, mindestens Großveranstaltungen und Feiern abzusagen. „Wir müssen jetzt diese Welle stoppen, sonst erleben wir das, was wir immer vermeiden wollten, eine Überlastung des Gesundheitssystems“, sagte Spahn. Erstmals in der Pandemie müssten in größerem Umfang bis zu 100 Intensivpatienten verlegt werden, sagte der scheidende Minister. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte, dass die Bundeswehr am Freitagnachmittag bei der Verlegung von sechs Covid-Patienten aus Bayern nach Münster-Osnabrück helfen sollte.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) rechnet damit, dass in Kürze der Höchststand von 5.723 Covid-19-Patienten vom Januar dieses Jahres auf den Intensivstationen erreicht sein wird. Am Freitag waren 4.326 Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt, davon 395 Neuaufnahmen. Der Intensivmediziner und frühere DIVI-Präsident Uwe Janssens sagte, es sei angesichts der Infektionszahlen nun täglich mit hunderten neuen Patienten zu rechnen - und das bei zwischenzeitlich zurückgegangenen Ressourcen. RKI-Präsident Wieler erkennt deshalb bereits jetzt einen Höchststand: 70 Prozent der Intensivstationen meldeten eine vollständige Auslastung oder teilweise eingeschränkte Betriebssituation, sagte er.
Die Intensivmediziner bereiten sich bereits auf eine Triage auf den Stationen vor. Bei der Triage werden Patienten oder Patientinnen nach Dringlichkeit, Schwere der Erkrankung oder Verletzung und im Katastrophenfall auch der Erfolgsaussicht sortiert. Am Freitag stellte die DIVI neue Leitlinien vor, die unter anderem vorsehen, dass bei der Behandlung der Impfstatus keine Rolle spielen soll. Vor allem nicht gegen Corona geimpfte Menschen haben schwere Covid-Verläufe und müssen ins Krankenhaus.
Zu der Situation in den Kliniken kommt derweil auch die Sorge vor einer in Südafrika neu entdeckten Virusvariante. Ab Samstag dürfen von dort nur noch deutsche Staatsbürger einreisen, die dann eine 14-tägige Quarantäne einhalten müssen.
Wegen der angespannten Lage gibt es inzwischen Forderungen, die für den 9. Dezember geplante Ministerpräsidentenkonferenz vorzuziehen. „Zögern wird bestraft“, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND). Der Abstimmungs- und Handlungsbedarf könne keine 14 Tage mehr warten. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) ist dagegen skeptisch. Es nütze nichts, immer neue Diskussionen und Beschlüsse zu haben, „während auf der Handlungsebene nicht genug Druck in den großen Flächenländern im Süden gemacht wird, dass die Dinge auch auf die Straße kommen“, sagte er RTL/ntv.
Die Corona-Krise fällt gerade in die Übergangsphase der Bundesregierungen. Die wahrscheinliche neue Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP ist noch nicht im Amt, geschäftsführend sind weiterhin Angela Merkel (CDU) und Gesundheitsminister Spahn verantwortlich, die aber keine Mehrheit mehr im Parlament hinter sich haben, sollten für Verschärfungen Bundestagsbeschlüsse notwendig werden. Merkels Sprecher Steffen Seibert sagte am Freitag, es gebe tägliche Abstimmungen mit dem wahrscheinlichen künftigen Kanzler Olaf Scholz (SPD). Zudem liefen auch weiter Abstimmungen mit den Ländern, wo maßgeblich über Schutzmaßnahmen entschieden wird.
Die Gesundheitsämter meldeten dem RKI für die Statistik am Freitag 76.414 bestätigte Neuinfektionen binnen eines Tages. Die Zahl der Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche lag bei 438,2. Die Zahl der im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorbenen Menschen liegt in Deutschland inzwischen bei 100.476.