Politikforscher: Staat gibt Verantwortung an die Gesellschaft weiter

Politikforscher: Staat gibt Verantwortung an die Gesellschaft weiter
01.10.2021
epd
epd-Gespräch: Jörg Nielsen

Oldenburg (epd). Nach Ansicht des Oldenburger Politikforschers Jan Sauermann gibt der Staat in der Corona-Krise immer mehr Verantwortung an die Zivilgesellschaft weiter. So könne sich die Politik unliebsame und umstrittene Entscheidungen - wie etwa eine Impfpflicht - ersparen und den zu erwartenden Ärger an Servicekräfte oder Kassiererinnen ablenken, sagte der Professor für Moderne Politische Theorie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). In der Wissenschaft werde dies „Blame Avoidance“ genannt, was mit Anschuldigungsvermeidungsverhalten übersetzt werden könne.

„Es ist die Frage, ob diese Politik noch zeitgemäß ist.“ Möglicherweise stehe Deutschland am Beginn einer Phase, in der der Staat das Heft des Handelns wieder stärker in die Hand nimmt. Sauermann verwies auf Spanien, Portugal, die skandinavischen Länder oder die USA, wo der Staat wieder mehr Verantwortung für soziale Fragen übernehme. In diesen Ländern seien in jüngster Zeit eher sozialdemokratische Kräfte in die Regierung gekommen. „Die Bundestagswahl könnte auch in diese Richtung erklärt werden.“

Seit den 1980er Jahren habe die Politik immer mehr Dinge der Eigenverantwortung der Menschen überlassen, Dies sei spätestens mit der Einführung der privaten Altersversorgung wie der Riester-Rente deutlich geworden. „Nun überträgt der Staat die Verantwortung für die Einhaltung der 2-G- oder 3-G-Regeln an die Gesellschaft, an die Restaurantbesitzer und die Betreiber von Kinos oder Fitness-Studios.“

Es sei schwierig zu bestimmen, wie viel Verantwortung der Staat für die Menschen übernehmen müsse und ab wann er zu tief in die persönliche Freiheit des oder der Einzelnen eingreife, betonte Sauermann. Dies werde immer wieder neu in der Gesellschaft ausgehandelt.

„Im Augenblick bewegt sich die Politik noch an der Grenze zu dem, was noch nicht Impfpflicht genannt werden kann“, so die Einschätzung Sauermanns. Mit der Einführung einer Impfpflicht rechne er aber nicht. Die juristischen Hürden seien sehr hoch und die Impfquote unter Lehrenden und medizinischen sowie pflegerischen Personal gut. Er selbst plädiere eher für noch mehr Impf-Anreize und hoffe auf einen baldigen Impfstoff für Kinder, um eine Herdenimmunität zu erreichen.