Gießen (epd). Die Diskussion um ein mögliches Ende der Lohnfortzahlung bei einer Quarantäne für Ungeimpfte sieht der Gießener Verfassungsrechtler Steffen Augsberg als weitere Stufe hin zu einem staatlichen Impfzwang. Zwar sei seit Start der Impfkampagne klar gewesen, dass geimpfte Personen anders zu behandeln seien als ungeimpfte. Ein staatlicher Impfzwang, sofern er zu rechtfertigen sein sollte, benötige aber bessere Argumente als sie bislang in der Diskussion genannt würden, sagte Augsberg dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Warum manche Menschen noch keine Covid-Impfung hätten, könne viele Gründe haben, unterstrich Augsberg, der auch Mitglied im deutschen Ethikrat ist. In der bildungsbürgerlichen Mitte seien wahrscheinlich nahezu alle geimpft. Aber Menschen in anderen Lebenssituationen habe die Kampagne bislang nicht hinreichend erreicht. „Man müsste die Angebote noch niedrigschwelliger aufziehen und etwa vor Baumärkten oder Moscheen impfen“, sagte Augsberg. Solche Angebote hätten bislang zu wenige Kommunen entwickelt.
„Einfach jetzt die Daumenschrauben anzuziehen ist aus meiner Sicht ein Wortbruch der Bundesregierung“, sagte Augsberg. Diese habe stets beteuert, dass es keine Impfpflicht geben wird. „Die kommt aber jetzt peu à peu, nur dass sie nicht so genannt wird.“
Kritisch wertete Augsberg die Entscheidungen mancher Bundesländer, wonach der Einzelhandel, Restaurants und Clubs selbst entscheiden sollen, ob sie nur Geimpfte und Genesene (2G) oder zusätzlich negativ Getestete (3G) einlassen wollen. Die Entscheidung über Eingriffe in Bürgerrechte privaten Unternehmen zu übertragen, „das geht so nicht“, sagte Augsberg. Da verstecke sich der Staat hinter den Privatunternehmen und übertrage diesen die Verantwortung für eine gesamtgesellschaftlich wichtige Risikoeinschätzung.
Statt dessen müssten Bundes- und Landesregierungen eine sachliche Risikoanalyse vornehmen, um die Frage zu beantworten, was überhaupt derzeit verhindert werden soll. Wenn einzelne Ungeimpfte das Risiko einer Corona-Ansteckung eingingen, sie die Mehrheit der Geimpften und das Gesundheitssystem aber nicht mehr gefährdeten, dann müsse Ungeimpften diese persönliche Entscheidung zugestanden werden. „Der Staat sollte ja auch nicht regulieren, ob ich mich schlecht ernähren oder durch Sport in Gefahr bringen will“, sagte Augsberg.
Er kritisierte zugleich eine gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen ohne Corona-Impfung. „Da fehlt ein Verständnis dafür, dass es in einer Demokratie auch abweichende, mir selbst vielleicht absurd erscheinende Haltungen geben kann“, sagte Augsberg. „Das macht mir Sorgen.“