Osnabrück (epd). Der Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht die Bundesregierung in der Pflicht, neben den Ortskräften auch anderen Menschen, die aus Afghanistan fliehen müssten, eine Perspektive zu eröffnen. Er halte es für problematisch, nach 20 Jahren militärischer Präsenz in dem Land und nach dem plötzlich vollzogenen Abzug der Truppen und zivilen Helfer „so zu tun, als ginge uns das nichts mehr an“, sagte der Historiker vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Man hätte viel früher, vielleicht schon vor Jahren, überlegen müssen, was mit den Menschen passieren soll, die das Land im Falle eines Abzugs verlassen müssen. Denn dass der Abzug kommen würde, stand schon lange fest.“
Die Ankündigung der Bundesregierung, den Nachbarstaaten mit Geld bei der Aufnahme von Flüchtlingen helfen zu wollen, laufe ins Leere, zumal die Grenzen aktuell schwer zu überwinden seien, betonte Oltmer: „Wie und wem will die Bundesregierung denn helfen?“ Es sei schwer vorstellbar, dass Deutschland dazu plötzlich politische Verhandlungen mit einem Land wie Iran aufnehme. Pakistan als bislang wichtigstes Zielland habe die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Die Millionen afghanischen Flüchtlinge dort lebten seit Jahrzehnten in äußerst prekären Verhältnissen. „Es steht im Raum, dass wir helfen wollen. Aber es gibt keine politische Planung oder Idee, wie das gehen soll.“
Oltmer sagte, er gehe davon aus, dass durch die aktuellen Evakuierungsaktionen letztlich nicht mehr als 10.000 Afghanen nach Deutschland kommen würden. Mit der Integration dieser relativ geringen Anzahl von Neuankömmlingen sieht er keine Probleme. „Eine Mehrheit der Deutschen ist der Meinung, dass die Aufnahme der Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder Hilfsorganisationen gearbeitet hätten, absolut notwendig ist.“ Es existiere zudem anders als 2015 eine funktionierende Infrastruktur.
Menschen, die sich nicht als Ortskräfte ausweisen könnten oder kein Visum hätten, rechne er kaum Chancen aus, in Kabul in eines der Militärflugzeuge zu gelangen, sagte der Universitätsprofessor. Auch eine Flucht nach Deutschland oder Europa über den Landweg sei durch massive Grenzsicherungen und Verträge mit Staaten wie der Türkei kaum möglich. Deshalb halte er Aufrufe von Politikern, eine Flüchtlingskrise wie 2015 dürfe sich nicht wiederholen, für übertrieben.
Alle, die flüchten müssten, seien derzeit in Afghanistan mehr oder weniger eingesperrt. Seit Jahren steige die Zahl der Binnenflüchtlinge, die vor allem in die Hauptstadt Kabul strebten. „Deswegen ist der Flughafen jetzt gerade das Nadelöhr.“ Eine weitere Zunahme in den kommenden Wochen sei zu erwarten. „Man muss sich Gedanken machen, was mit diesen Binnenflüchtlingen passieren soll“, forderte Oltmer.