Dubai, Kabul (epd). Die Lage in Afghanistan spitzt sich immer weiter zu. Während die radikalislamischen Taliban am Sonntag vor den Toren der Hauptstadt Kabul standen, herrschte in der Bevölkerung Panik. Viele Menschen versuchten laut Medienberichten aus der Stadt zu gelangen. In einer Erklärung versicherten die Taliban, ihre Kämpfer würden die Vier-Millionen-Metropole nicht mit Gewalt einnehmen und den Menschen eine Ausreise ermöglichen.
Innerhalb kürzester Zeit haben die Islamisten alle großen Städte unter ihre Kontrolle gebracht, oftmals ohne Gegenwehr. Derzeit seien Verhandlungen über einen friedlichen Machtwechsel im Gange, teilten die Aufständischen in den sozialen Netzwerken mit. Sie kontrollieren inzwischen fast alle der 34 Provinzen.
Das afghanische Präsidialamt rief die Einwohner zu Ruhe und Besonnenheit auf. Interimsinnenminister Abdul Sattar Mirzakwal sagte laut dem afghanischen TV-Sender Tolo, die Hauptstadt werde nicht angegriffen werden und eine Machtübergabe ohne Gewalt vonstatten gehen. Die Sicherheitskräfte würden die Sicherheit der Stadt gewährleisten. Gleichzeitig wurden in der Hauptstadt Regierungsgebäude geräumt.
Mehrere Länder begannen mit der Evakuierung ihrer Botschaften und Bürgerinnen und Bürger oder bereiteten diese vor. Auch Deutschland will das Personal der diplomatischen Vertretung und andere Staatsbürgerinnen und -bürger schnellstmöglich ausfliegen.
Die USA und die Nato hatten nach fast 20 Jahren im Mai mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan begonnen. Im Juni verließen die letzten deutschen Soldaten das Land. Seitdem brachten die Taliban zahlreiche Gebiete unter ihre Kontrolle, ohne dass die von den internationalen Truppen ausgebildete Armee sie abwehren konnte. In den von den Aufständischen besetzten Gebieten häufen sich Berichte über Kriegsverbrechen.
Hunderttausende Familien waren in den vergangenen Tagen aus den eroberten Regionen nach Kabul geflohen. Hilfswerken zufolge wurde ihre Lage von Tag zu Tag schwieriger. Die UN hatten die Nachbarländer Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtende zu öffnen.
Besonders exponierte Gruppen wie Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen und Medienschaffende müssen um ihr Leben fürchten. Kanadas Premierminister Justin Trudeau kündigte an, sein Land wolle 20.000 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen aufnehmen. Auch in Deutschland wird mit einer zunehmenden Zahl von afghanischen Geflohenen gerechnet.
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, verwies auf die etwa 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge in Afghanistan, die in den vergangenen Tagen mehr geworden sein dürften. Nicht nur auf die Türkei, den Iran und Pakistan werde der Druck „massiv“ steigen, sagte Roth der Rheinischen Post (Samstag). „Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland aber auch zunehmend wird.“
Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock forderte, die EU-Länder müssten sich auf eine Aufnahmen von Flüchtlingen vorbereiten. Man dürfe die Fehler des Syrien-Krieges nicht wiederholen und warten, bis alle Mitgliedsländer dazu bereit seien, sagte sie im „Interview der Woche“ im Deutschlandfunk. Stattdessen solle eine Kontingentregelung mit den EU-Staaten, die dazu bereit seien, sowie mit den USA und Kanada gefunden werden.
Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) geht davon aus, dass sich mehr Menschen in Bewegung setzen werden, auch in Richtung Europa. Aber das gelte auch für andere Länder wie Belarus und Pakistan. „Wir stehen vor schwierigen Entwicklungen.“
Laut dem Innenminister wurde der Zweck des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan verfehlt. Ziel sei es gewesen, die Lebensbedingungen für die Menschen zu verbessern und Stabilität in das Land zu bringen, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“ (Montag). „Heute muss man leider festhalten: Das ist gescheitert.“ Dennoch sei die Entscheidung dafür im Jahr 2001 richtig gewesen. „Es gibt in der Außenpolitik Entwicklungen, die scheitern - trotz bester Motivation.“ Ein neues militärisches Eingreifen in Afghanistan schloss Seehofer hingegen aus.
Das Land Berlin kündigte derweil an, afghanische Geflohene aufnehmen zu wollen, die sich für Demokratie eingesetzt hätten. „Wir brauchen dafür dringend eine Entscheidung auf Bundesebene“, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) dem „Tagespiegel“ (Sonntag).