Aachen (epd). Ein Gutachten zu sexuellem Missbrauch durch Kleriker wirft den Verantwortlichen im Bistum Aachen schwere Versäumnisse vor. Laut der am Donnerstag veröffentlichten Studie, die von dem Bistum selbst in Auftrag gegeben worden war, gibt es Hinweise auf mindestens 175 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Kleriker seit 1965. Gegenüber den Tätern habe die Kirchenleitung eine "unverdiente Milde" walten lassen, kritisierten die Gutachter der Münchner Anwalts-Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl bei einer Online-Konferenz. Das Leid der Opfer hingegen sei nicht wahrgenommen worden.
Die Verantwortung für die mangelnde Aufklärung und Verfolgung der Taten sehen die Anwälte bei früheren Bischöfen und Generalvikaren, darunter Heinrich Mussinghoff, der das Bistum bis 2015 leitete. Zugleich lobten die Anwälte die Zusammenarbeit mit der jetzigen Bistumsleitung, die schnellen Zugang zu allen Akten ermöglicht habe. Die Unterstützung sei "grenzenlos" gewesen.
Das Gutachten gehe nur auf die gefundenen Hinweise ein und treffe keine Aussage über die tatsächliche Dimension sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, erklärten die Anwälte. In den ermittelten Fällen seien die meisten Opfer zwischen acht und 14 Jahren alt gewesen. Davon seien 124 Jungen und 45 Mädchen gewesen. Bei sechs Opfern sei das Geschlecht unklar geblieben. Die Anwälte, die Akten aus der Zeit zwischen 1965 und 2019 prüften, gehen von insgesamt 81 Tätern aus, darunter 79 Priester und zwei Diakone. Lediglich fünf der Priester und ein Diakon seien aus dem Kleriker-Stand entlassen worden.
Nur in gravierenden Einzelfällen habe das Bistum Missbrauch durch Kleriker bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Erst seit 2010 habe sich diese Praxis grundlegend geändert. In diesem Jahr hatte die Deutsche Bischofskonferenz neue Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch erlassen.
Der Umgang der Kirchenleitung mit den Missbrauchsfällen sei bis zu diesem Zeitpunkt von dem Bestreben geprägt gewesen, Skandale zu verhindern, stellten die Gutachter fest. "Ein Beflecktwerden der Kirche musste unbedingt vermieden werden." Das Gutachten dokumentiert das beispielhaft an 14 ausführlich geschilderten Fällen. Demnach wurde sogar ein Täter, der darum gebeten hatte, nicht wieder in der Seelsorge eingesetzt zu werden, in den 50er Jahren von der Bistumsleitung wieder auf eine entsprechende Stelle geschickt. Unter anderem seien sechs einschlägig verurteilte Straftäter wieder als Seelsorger beschäftigt worden, in einem Fall sogar noch während des offenen Strafvollzugs.
Persönliche Verantwortlichkeit für die Versäumnisse sehen die Gutachter unter anderem bei den mittlerweile verstorbenen Bischöfen Johannes Pohlschneider und Klaus Hemmerle. Die beiden noch lebenden Verantwortlichen, der frühere Bischof Heinrich Mussinghoff und der frühere Generalvikar Manfred von Holtum, die beide bis 2015 im Amt waren, seien auf ein Gesprächsangebot der Gutachter nicht eingegangen, sagte Anwalt Ulrich Wastl.
In einer dem Gutachten beigefügten Stellungnahme erklärte Mussinghoff, es sei nicht gerechtfertigt, die Beurteilung des damaligen Umgangs mit dem Thema Missbrauch aus heutiger Sicht zu betrachten. Wastl betonte, es gehe nicht darum, Verantwortliche zu stigmatisieren, sondern eine Aufarbeitung des Geschehenen zu ermöglichen. Die Ursachen für die mangelnde Aufklärung und Vertuschung von Missbrauch sind nach Ansicht der Gutachter "systemisch". So verhinderten Klerikalismus und persönliche Bindungen innerhalb des Klerus die Verfolgung von Straftaten.
Der Aachener Bischof Helmut Dieser sowie Generalvikar Andreas Frick nahmen das Gutachten am Donnerstag nach der Online-Präsentation in Empfang, äußerten sich jedoch zunächst nicht zum Inhalt. Nach Angaben der Kanzlei war die Bistumsleitung nicht vorab über die Ergebnisse des Gutachtens informiert.
Das Erzbistum Köln hatte ein ähnliches Gutachten bei der Münchner Kanzlei in Auftrag gegeben, die Veröffentlichung aber Ende vergangenen Monats abgesagt. Erzbischof Rainer Maria Woelki warf den Anwälten vor, den Anforderungen an eine unabhängige Untersuchung nicht erfüllt zu haben. Woelki gab stattdessen ein neues juristisches Gutachten beim Kölner Strafrechtler Björn Gercke in Auftrag.