Berlin (epd). Drei Stunden nach dem Start hatten sich schon mehr als 90.000 Menschen beworben. Sie alle wollen zu den Teilnehmern eines Forschungsprojekts gehören, das am Dienstag in Berlin vom Verein "Mein Grundeinkommen" und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gestartet wurde. Ihre Chance ist denkbar gering: Aus einer Million Bewerbern wollen die Forscher 120 Personen auswählen, die von kommendem Frühjahr an drei Jahre lang 1.200 Euro pro Monat bekommen, bedingungslos. Im halbjährlichen Abstand werden sie befragt und ihre Antworten abgeglichen mit denen einer knapp 1.400 Personen umfassenden Vergleichsgruppe ohne Grundeinkommen.
Das Experiment ist die erste Langzeitstudie in Deutschland zum bedingungslosen Grundeinkommen. Ziel ist laut Initiator Michael Bohmeyer vom Verein "Mein Grundeinkommen", die Wirkung der Zahlung auf den Einzelnen und Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben zu erforschen.
Für den Soziologen und DIW-Forscher Jürgen Schupp steht im Zentrum, ob und wie sich die Zahlung auf die Berufstätigkeit der Testpersonen auswirkt. Führt das Geld und die Sicherheit, die damit verbunden ist, zu Veränderungen im Empfinden und Verhalten der Teilnehmer? Geben sie etwa einen ungeliebten Job auf und machen sich selbstständig? Arbeiten sie weniger? Und wie verbringen sie die gewonnene Zeit? Man werde auch erfassen, ob sich Teilnehmer einfach aufs Sofa legen und mehr fernsehen, kündigte Schupp bei der Vorstellung der Versuchsanordnung an. Schupp war jahrelang Leiter des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am DIW, einer Langzeit-Befragung Zehntausender Haushalte, deren Daten grundlegend sind für die Sozial- und Wirtschaftsforschung in Deutschland.
Eine Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts untersucht die psychologischen Aspekte, etwa ob ein Grundeinkommen hilft, Stress zu verringern und in der Folge die Lebenszufriedenheit und gesellschaftliches Engagement zu erhöhen, wovon Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens wie Bohmeyer überzeugt sind. Erfahrungsberichte der Menschen, die ein Jahr lang das von seinem Verein regelmäßig verloste Grundeinkommen von 1.000 Euro monatlich bezogen haben, legten das nahe, berichtete Bohmeyer. Häufig wichen Ohnmachtsgefühle einem Aufbruchsgefühl, sagt er.
In Deutschland wird die Wirkung eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Praxis erstmals untersucht. Ähnliche Experimente mit verschiedenen Grundeinkommen gab es seit den 1970er Jahren in mehreren Ländern, zuletzt in Finnland. Das deutsche Modellprojekt wird allein aus den Spenden von rund 140.000 Privatleuten finanziert. Die Ergebnisse sollen 2024 veröffentlicht werden. Rechtlich gesehen erhalten die Teilnehmer eine Schenkung von 1.200 Euro im Monat, die sie nicht versteuern müssen. Anders sieht es bei Grundsicherungsempfängern (Hartz IV) aus. Als Projektteilnehmer müssen sie sich entscheiden, weiter von Sozialleistungen oder den 1.200 Euro zu leben. Für sie gibt es das Grundeinkommen nicht obendrauf.
Der Verein "Mein Grundeinkommen" mit Sitz in Berlin verlost seit 2014 bedingungslose Grundeinkommen von 1.000 Euro pro Monat für jeweils ein Jahr, sobald 12.000 Euro an Spenden zusammengekommen sind. Er hat nach eigenen Angaben bisher mehr als 650 Grundeinkommen vergeben.