"Die Tat hat die Familie innerlich zerrissen"

"Die Tat hat die Familie innerlich zerrissen"
Sohn berichtet über das Auffinden des toten Walter Lübckes
Am siebten Verhandlungstag wurde es persönlich: Ein Sohn Walter Lübckes schilderte, wie er den toten Vater auf der Terrasse fand. Und wie der Mord sich auf die Familie auswirkt.
28.07.2020
epd
Von Jens Bayer-Gimm (epd)

Frankfurt a.M. (epd). "Wir werden damit nie fertig werden, was unserem Vater angetan wurde. Es bleibt unvorstellbar und unbegreiflich." Der Sohn des vor gut einem Jahr ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Jan-Hendrik Lübcke (30), offenbarte am Dienstag vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main: "Die Tat hat die Familie innerlich zerrissen." Der Mord überschatte das Leben: "Vom Alltag bin ich ganz weit entfernt. Es wird niemals mehr so sein wie früher."

Dennoch wolle die Familie sich von der Tat nicht überwältigen lassen, sagte der Zeuge. Er habe mit seiner Frau und seiner Mutter beschlossen, weiterhin im Elternhaus zu wohnen: "Gerade um zu bekräftigen, dass wir weiter hinter unserem Vater stehen, privat und beruflich." Die Terrasse allerdings mieden sie abends. Jan-Hendrik Lübcke schilderte vor Gericht, wie er den toten Vater fand. Zweimal versagte ihm kurz die Stimme.

Der mit den Eltern im selben Haus in Wolfhagen-Istha wohnende Sohn war am Abend der Tat gleich nebenan auf der Dorfkirmes gewesen. Als er kurz vor 0.30 Uhr am 2. Juni 2019 nach Hause zurückkehrte, fiel ihm das brennende Licht in der Küche auf. Er schritt durch die Küche auf die Terrasse und sah seinen Vater im Dunkeln auf dem Gartenstuhl sitzen, den Kopf nach hinten an die Wand gelehnt, den Mund offen, die Arme herunterhängend, "wie schlafend", sagte Lübcke. "Es sah alles normal aus." Erst als der Vater auf seine Ansprache hin keine Reaktion zeigte, habe er "kurz Panik" bekommen: "Hier ist was passiert."

"Mein erster Gedanke war: Herzinfarkt", berichtete Jan-Hendrik Lübcke. Die angerufene Rettungsstation habe ihn angeleitet, seinen Vater zu reanimieren. Erst als er diesen vom Stuhl gezogen und auf den Boden gelegt habe, habe er Blut an Nase und Mund gesehen. Auch der dann eingetroffene Notarzt habe sich die Herkunft des Blutes im Mund nicht erklären können. Inzwischen seien weitere Familienangehörige und ein Freund hinzugekommen. Auf Drängen der Familie habe der Rettungswagen Walter Lübcke ins Krankenhaus gebracht.

Dort habe die Familie lange gewartet, schließlich hätten der Notarzt und ein weiterer Arzt den Tod Lübckes bekanntgegeben. Auf die Frage nach der Herkunft des Blutes sei der Arzt zum Körper des Toten zurückgegangen. Schließlich habe ein inzwischen eingetroffener Kripo-Beamter ihm eröffnet: "Da ist ein Gegenstand im Kopf Ihres Vaters gefunden worden."

Seinen Vater schilderte Jan-Hendrik Lübcke als "weltoffenen Menschen, sehr motivierend und lebensfroh". "Er war ein guter Vater." Das Amt des Regierungspräsidenten sei "seine Berufung" gewesen: "Er ist in seinem Amt aufgegangen." Politisch sei er "christlich-konservativ" gewesen, "gute Mitte der CDU". Es sei ihm wichtig gewesen, dass alle Menschen gleich behandelt werden. Im Zusammenhang mit Protesten gegen die Eröffnung von Flüchtlingsunterkünften 2015 habe sein Vater nie von Bedrohungen gesprochen.

Aber nach der Bürgerversammlung im Oktober 2015 in Lohfelden, auf der Mitglieder der rechtsextremen Szene störten und von der die Angeklagten E. und H. ein provozierendes Videoschnipsel ins Internet stellten, sei Walter Lübcke "beunruhigter" erschienen. "Er hat politische Unterstützung vermisst", kritisierte der Sohn. Drei Monate nach dem Mord wäre sein Vater in den Ruhestand gegangen. "Er hat sich auf die Familie gefreut, wollte das Leben genießen", sagte Jan-Hendrik Lübcke.

Zu Beginn des siebten Verhandlungstages entließ der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel einen der beiden Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan E., Frank Hannig. Sagebiel stellte fest, dass das Vertrauensverhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Dresdner Rechtsanwalt "gestört" und "zerrüttet" sei. Hannig habe Anträge am Montag nicht mit dem Angeklagten abgesprochen. Die Verteidigungsansätze des Rechtsanwalts schadeten E. Ebenso spreche die Überraschung des Angeklagten über das Vorgehen des Verteidigers dafür, dass das Vertrauensverhältnis gestört sei.

Der zweite Verteidiger von E., Mustafa Kaplan, gab im Anschluss zu Protokoll, dass alle Mandate Hannigs in diesem Verfahren beendet seien. "Er soll den Angeklagten nicht mehr stören." Stephan E. hatte bereits seinem ersten Anwalt Dirk Waldschmidt das Vertrauen entzogen und ihn durch Hannig ersetzt.

Die Bundesanwaltschaft hat E. aufgrund von Indizien des Mordes angeklagt. Er muss sich darüber hinaus im Fall eines 2016 in Lohfelden bei Kassel niedergestochenen Flüchtlings verantworten. Hier wird ihm aufgrund von Indizien versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.