Bielefeld (epd). Die westfälische Präses Annette Kurschus kritisiert Äußerungen, osteuropäische Werksarbeiter seien für den großen Corona-Ausbruch in einem Fleischbetrieb der Firma Tönnies im Kreis Gütersloh verantwortlich. "Ich bitte die politisch Verantwortlichen um Sorgfalt und Besonnenheit bei der Suche nach den Ursachen", erklärte die leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen am Donnerstag in Bielefeld. "Es darf nicht sein, dass bestimmte Menschen von vornherein für schuldig erklärt und an den Pranger gestellt werden."
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte am Mittwoch auf die Frage, was die aktuellen Corona-Fälle über die Lockerungen in NRW aussagten, geantwortet: "Das sagt überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt." Das werde überall passieren, weil es in ganz Deutschland ähnliche Regelungen gebe, fügte Laschet hinzu und verwies unter anderem auf den Fall eines Corona-Ausbruchs in einem Spargelhof in Bayern: "Das hat nichts mit Lockerungen zu tun, sondern mit der Unterbringung von Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben."
Zuvor hatten der Sprecher von Tönnies, André Vielstädte, sowie der Landrat des Kreises Gütersloh, Sven-Georg Adenauer (CDU), die Vermutung geäußert, dass die Fälle möglicherweise auf die nun wieder möglichen Familienbesuche von Mitarbeitern zurückzuführen seien.
Kurschus erklärte, einseitige und voreilige Schuldzuweisungen schürten Ressentiments und gefährdeten den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Ursachen für die zahlreichen Neuinfektionen könne bislang niemand eindeutig benennen. Die Vermutung, osteuropäische Werksarbeiter hätten das Coronavirus "eingeschleppt", halte sie daher "für eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt unzulässige Spekulation", betonte die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie entbehre jeglicher belastbaren Sachgrundlage und verunglimpfe ausländische Arbeitskräfte.
Stattdessen müssten die Unterbringungssituation und die Hygienestandards in den Sammelunterkünften in den Blick genommen werden, forderte Kurschus. "Nicht zuletzt braucht es eine neue gesellschaftliche Debatte über unser Konsumverhalten sowie Dumpingpreise und Dumpinglöhne in der Fleischindustrie", mahnte die Theologin. Die Erkrankten und Infizierten im Kreis Gütersloh schließe sie in ihre Gebete ein.
Bis Mittwochabend war nach Angaben des Kreises Gütersloh bei mehr als 650 Mitarbeitern des Tönnies-Schlachthofs in Rheda-Wiedenbrück eine Infektion mit dem Coronavirus festgestellt worden. Insgesamt waren 1.050 Beschäftigte getestet worden.